Bildung

«Kuschelpädagogik? So ein Blödsinn!»


Frau Müller-Möhl, sind Sie gerne zur Schule gegangen?

Ja, sehr. Und je älter ich wurde, je näher die Matura rückte, desto lieber. Einfach, weil mich die Themen, die gelehrt wurden, immer mehr interessierten.


Welches waren ihre Lieblingsfächer?

Ich habe deutsche Literatur geliebt und Geschichte. Das hatte natürlich auch mit den Lehrpersonen zu tun, die sind matchentscheidend.


Gute Lehrer, gute Schüler?

Ein Lehrer, der ein Fach mit Leben und Leidenschaft füllt, kann die Schüler begeistern. Dann ziehen sie gerne mit und danken es mit guten Leistungen. Wir haben das im Zusammenhang mit unserem Schulpreis immer wieder gehört.


Wenn Sie an Ihre Schulzeit zurückdenken: Hat sich wirklich gross etwas verändert?

Hoffentlich! Frontalunterricht ist definitiv out. Schulen, die sich auf das individualisierte Lernen eingestellt haben, sind bereit für die Herausforderungen der Zukunft. Wir sind schliesslich alle Individuen mit unterschiedlichen Interessen und Begabungen: Kinder muss man dort fördern, wo sie ihre Talente zeigen.


Wird das in Schweizer Schulen gelebt?

Schauen Sie sich die Oberstufe in Wädenswil an. Sie hat unter den hundert Schulen, die sich beworben haben, den Hauptpreis des Schweizer Schulpreises gewonnen. Unter anderem auch deshalb, weil man dort mit Lernlandschaften in Gruppen Wissen vermittelt. Die Jugendlichen lernen im Team – genauso wie sie später draussen im Leben lernen und arbeiten werden. Das ist die Zukunft der Wissensvermittlung und -erarbeitung.


Kritiker kommen in diesem Zusammenhang schnell mit dem bösen Wort der «Kuschelpädagogik »

… … was schlicht Blödsinn ist! Diese Art des Lehrens fordert von Schülerinnen und Schülern, aber auch von den Lehrern einiges mehr als der banale Frontalunterricht. Dazu kommen ganz neue Herausforderungen, etwa die Informationstechnologien.


Die Komplexität nimmt also zu?

Ganz klar. Früher mussten Schüler Gedichte auswendig lernen. Heute müssen sie diese interpretieren und einordnen und womöglich im Alltag sinnvoll einsetzen können. Die Vernetzung des Wissens spielt dabei eine zentrale Rolle. Manche Lehrmittel nehmen dieses Denken auf, etwa wenn Vokabel-Kärtchen mit Illustrationen und Analogien ergänzt werden.


Also doch ein neues Fächerangebot?

Wenn es so einfach wäre! Die Schweiz hat 26 Kantone, damit 26 Bildungssysteme, unzählige Kommissionen und Lehrmittel. Der Lehrplan 21 hat 500 Seiten (lacht und betont jede einzelne Silbe). Man wollte niemandem wehtun und hat dabei mehr Verunsicherung geschaffen als Orientierung.


Was also bräuchte es?

Nehmen Sie den Umgang mit Geld, die sogenannte financial literacy. Heute geben unsere Kinder Geld aus, das sie noch gar nicht verdient haben. Denken Sie nur an die Handyrechnung. Viele lernen den Umgang mit Geld zu spät. Das gilt für Gymnasiasten noch viel mehr als für Jugendliche, die eine Lehre machen und damit schon früher an das eigenständige Leben herangeführt werden. Steuer- und Versicherungsrechnungen, Familiengründung, Wohnen, Essen: Das sind Lebensbereiche, die alle etwas angehen. Und von denen viele Jugendliche absolut keine Ahnung haben. Der Lehrplan 21 nimmt zwar Teilbereiche der financial literacy auf, etwa im Thema «Konsum», das unter Realien gelehrt wird. Aber das reicht natürlich nicht aus. Sie fordern neue Kompetenzen in der Schule. Das heisst doch letztlich: noch mehr Leistung. Sind unsere Kinder nicht schon längst am Limit? Könnte man die Schule von morgen auf der grünen Wiese neu designen, würden gewisse Fächer sicher wegfallen …


Zum Beispiel …?

Den Sinn der Handarbeit habe ich nie wirklich gesehen. Ich würde dieses Fach ersetzen mit Wissen, das etwas näher am modernen Leben dran ist, Ernährung zum Beispiel. Aber zurück zu Ihrer Frage: Leistung – fördern und fordern – ist nun mal Teil der Schule.


Wie reagieren Lehrerinnen und Lehrer auf Ihr Engagement und den offenen Diskurs?

Ich habe sehr viele positive Reaktionen erhalten, die uns Mut machen. Das Bildungswesen ist im Umbruch, und ganz viele Menschen wollen teilhaben an der anstehenden Arbeit.


Also Noten über alles?

Nicht zwingend Noten, es gibt andere Beurteilungsmöglichkeiten. Aber Leistungsmessung muss sein, selbstverständlich. Mit dem individualisierten Lernen wird man den unterschiedlichen Entwicklungsstufen der Schüler viel besser gerecht als mit Noten. Schliesslich sind bei Weitem nicht alle 14-Jährigen gleich weit. Eigentlich unglaublich, dass man dieser Tatsache erst seit wenigen Jahren Rechnung trägt.


Privatschulen können sich mehr Experimente erlauben als staatliche. Gehen wir auf eine Zweiklassenbildungsgesellschaft zu?

Falls Sie darauf hinaus wollen: Es ist eindeutig nicht so, dass private Schulen besser wären als staatliche. Die beiden Gewinner unseres Hauptpreises, Wädenswil und Martigny, sind beide staatliche Institutionen.


Also keine Zweiklassengesellschaft in der Schule?

Wenn überhaupt, dann droht die Gefahr viel früher, bei der frühkindlichen Bildung nämlich. Das gilt vor allem für Kinder mit Migrationshintergrund, die keine Betreuung haben, weil es sich die Eltern nicht leisten können. Denn immer öfter müssen beide Elternteile arbeiten. Sämtliche Studien zeigen: Kinder, die schon früh betreut und gefördert werden, sind später gesünder, werden seltener kriminell und haben natürlich die besseren Berufschancen. Profitieren tun alle, nicht zuletzt der Staat. Denn diese Kinder haben einen besseren Bildungsweg und werden so später bessere Jobs bekommen, mehr verdienen, deshalb auch mehr Steuern bezahlen und sie werden die Sozialwerke weniger belasten. Die Alternative sind Schlüsselkinder, die Stunden vor dem Fernseher sitzen oder sich auf der Strasse rumtreiben.


Es gibt Strömungen in der Gesellschaft, die das Problem überhaupt nicht so sehen.

Wenn sich nichts tut, riskieren wir die Zweiklassengesellschaft. Mehr noch: Wir riskieren einen Teil unserer Identität. Denn in der Grundschule kommen Kinder aus allen Gesellschaftsschichten zusammen. Das ist ein wichtiger Teil unseres Systems. Wenn das nicht mehr klappt, werden wohlhabende Eltern ihre Kleinen tatsächlich privat frühbetreuen. Dann haben wir ein Problem.


Einzelne Kantone scheuen sich nicht mehr, auch bei der Bildung zu sparen.

Grundsätzlich halte ich Sparen bei der Bildung für falsch. Wenn es denn die Schule sein soll, dann bitte bei der Infrastruktur. Nicht jede Schule braucht ein eigenes Schwimmbad, eine eigene Sporthalle oder eine frisch geteerte Auffahrt.