Bildung

„Die Chancengleichheit bleibt eine Baustelle“

Carolina Müller-Möhl gehört zu den einflussreichsten Frauen in der Schweizer Wirtschaft. Die Unternehmerin und Philanthropin engagiert sich unter anderem für ein besseres Bildungssystem und die Vereinbarkeit von Beruf und Familie. Für die Zukunft wünscht sie sich ein ganzheitliches Bildungsverständnis.



Frau Müller-Möhl, warum liegt Ihnen das




Thema Bildung am Herzen?



Bildung spielt im Leben jedes Menschen eine zentrale Rolle. Sie ist die Basis für ein unabhängiges und selbstbestimmtes Leben. In der Schweiz ist Bildung der einzige Rohstoff, den wir haben. Dabei beschränkt sich Bildung nicht auf die reguläre Schulzeit, sondern beginnt bereits vorher und endet auch danach nicht. Fürs Lernen ist man nie zu jung und nie zu alt – deshalb verstehe ich Bildung als «lebenslanges Lernen».



Das lebenslange Lernen ist quasi zur Selbstverständlichkeit




geworden, dennoch gibt es




wenige Ansätze in Politik und Wirtschaft,




die dieses Konzept auch konstitutiv angehen.




Warum ist dem so?



Meiner Meinung nach ist die Schweiz mit ihrem dualen Bildungssystem und dem umfangreichen Weiterbildungsangebot gut aufgestellt. Dieses System sorgt für Durchlässigkeit. Es bietet ausserdem allen Altersstufen Möglichkeiten zur Weiterentwicklung. Lebenslanges Lernen, wie ich es verstehe, ist aber eher eine persönliche Sache als eine Staatsaufgabe.



Nun verändert sich die Art zu lernen mit




virtuellen Klassenräumen, Online-Assessments,




MOOCs (Massive Open Online




Courses) usw. zusehends. Wo sehen Sie die




grössten Chancen der Digitalisierung im




Bildungswesen?



Der Zugang zu Wissen könnte weltweit Wirklichkeit werden. Auch für Kinder, die nicht von einer obligatorischen, öffentlichen, kostenlosen und qualitativ guten Schule profitieren können. Ausserdem könnte die Digitalisierung dem Konzept der individuellen Förderung zum Durchbruch verhelfen.



Wissen ist heute rund um die Uhr, überall auf




dem Globus für alle verfügbar. Hochschulen




erreichen neue Zielgruppen, etwa Studierende




in Entwicklungs- und Schwellenländern…



In Standford studieren zurzeit rund 16‘000 Menschen. Für den beliebtesten MOOC dieser Universität haben sich über eine Million Studenten von überall auf dem Globus eingeschrieben. Oder die Khan Academy, deren Mission es ist, kostenloses Lehrmaterial – tausende von Lernfilmen in bald vierzig Sprachen – für Schüler auf der ganzen Welt anzubieten.



Angesichts dieser Entwicklungen könnte




man annehmen, dass die Chancengleichheit in




der Bildung bereits Realität geworden ist?



Die Chancengleichheit hat ohne Zweifel Fortschritte gemacht. Trotzdem bleibt sie eine hartnäckige Baustelle, auch in der Schweiz. Noch immer wird der Schulerfolg eines Kindes wesentlich von seiner individuellen Herkunft geprägt.



Wo sollte das Bildungssystem denn ansetzen?



Die unterschiedliche Entwicklung von Kindern beginnt bereits in der frühesten Kindheit. Deshalb besteht Handlungsbedarf, insbesondere bei der frühkindlichen Bildung, Betreuung und Erziehung (FBBE). Frühe Förderung erhöht die Chancengerechtigkeit und zahlt sich aus. Das beweisen Studien aus den USA. So verringern Massnahmen in diesem Bereich zum Beispiel die Zahl der Sozialfälle. «Je länger wir mit der Förderung von Kindern warten, desto teurer wird es», sagt Nobelpreisträger James Heckman. Einer verstärkten Investition in FBBE kommt bei der Frage nach gleichen Startchancen also eine Schlüsselrolle zu.



In der digitalisierten Welt verringert sich




die Halbwertszeit des Wissens und das reine




Fachwissen verliert an Bedeutung. Die Zukunft




erfordert andere, übergeordnete Kompetenzen.




Sind unsere Schulen bereit dazu?



Zurzeit findet in der Tat eine lebendige Debatte darüber statt, wie Schulen im Zeitalter der digitalen Revolution ihren Auftrag erfüllen können. Wenn die reine Wissensvermittlung nicht mehr die wichtigste Funktion der Schule sein kann, geht es darum, die Persönlichkeit und das Potenzial der Kinder zu fördern.



Wie könnte dies aussehen?



Einen vorbildlichen Weg zeigt beispielsweise die Sekundarschule Petermoos in Buchs, die 2015 den Schweizer Schulpreis gewonnen hat. Sie ist eine Pionierin in der Umsetzung und Weiterentwicklung von Lernlandschaften. Diese Lernlandschaften unterstützen eigenverantwortliches und individualisiertes Lernen. «Zu lernen wie man lernt, darum geht es.»



Welche Ansätze sollten also in Zukunft verfolgt




werden?



Ein ganzheitliches Bildungsverständnis. Ganzheitliche Bildung fördert die individuelle und soziale Entwicklung und vermittelt umfassende und alltagstaugliche Kompetenzen. Zu lernen wie man lernt, darum geht es im Bildungsprozess. Ganzheitliche Bildung stellt die Interessen der Lernenden in den Mittelpunkt. Sie trägt auch zur Entwicklung der Gesellschaft bei, indem sie das Miteinander in Vielfalt stärkt.



Für Lehrer und Dozierende bringen digitale




Unterrichtsformen auch neue didaktische




Anforderungen mit sich. In welche Richtung




entwickelt sich der Lehrerberuf?



«Die digitalen Möglichkeiten werden die Verhältnisse zwischen Schülern und Lehrern umwälzen», prognostiziert Jörg Dräger, Vorstandsmitglied der Bertelsmann Stiftung, in seinem Buch «Die digitale Bildungsrevolution». Der Lehrer wird für seine Schüler nicht mehr die einzige Quelle des Wissens sein, sondern eine Art Coach, der die Schüler führt. Guter Unterricht ist und bleibt aber entscheidend. Nur ein Lehrer, der sein Fach mit Leidenschaft vermittelt, kann die Schüler begeistern. Dann ziehen sie gerne mit. Wir haben das auch im Zusammenhang mit dem Schweizer Schulpreis immer wieder beobachtet.



Sie engagieren sich mit Ihrer Stiftung stark




für die Vereinbarkeit von Beruf und Familie.




Welches sind heute noch die grössten Stolpersteine




für Frauen in der Wirtschaft und welche




Rolle spielt unser Bildungswesen dabei?



Der grösste Stolperstein liegt in der Vereinbarkeit von Beruf und Familie selbst. Sechs von zehn Frauen arbeiten Teilzeit. Häufig bedeutet eine Teilzeitbeschäftigung geringere Karrierechancen. Weiterbildungsmöglichkeiten wie das Programm «Women back to Business» der Universität St. Gallen, welches wir mit der Müller-Möhl Foundation unterstützen, können Frauen für den Wiedereinstieg nach einer Familienpause fit machen.



Auch ein Fernstudium ist eine Option, sich für




den Wiedereinstieg vorzubereiten. Generell




stellen wir als Fernfachhochschule ein steigendes




Interesse an flexiblen berufsbegleitenden




Studienmodellen fest. Sehen Sie darin ein




Potenzial, dem Fachkräftemangel etwas




entgegenzusetzen?



Ja, auf jeden Fall. Solche Angebote können, wie auch die bereits erwähnte Initiative «Women back to Business», einen wichtigen Beitrag zur Bekämpfung des Fachkräftemangels leisten. Ausserdem rufe ich Frauen generell dazu auf, keine Berührungsängste zu haben und sich auch in sogenannte Männerdomänen wie Technik und Naturwissenschaften zu wagen.



Unter welchen Umständen hätten Sie sich




persönlich für ein Fernstudium entschieden?



Wenn mir meine persönliche Lebenssituation nicht erlaubt hätte, mein Studium mit meinem beruflichen Engagement und meinen familiären Verpflichtungen in Einklang zu bringen. Oder eben als Wiedereinsteigerin auf der Suche nach einem von Ort und Zeit unabhängigen Studium.



Zum Abschluss noch dies: Lesen Sie persönlich




lieber E-Books oder klassische Bücher?



Klassische Bücher.



Frau Müller-Möhl, herzlichen Dank.

Erschienen in CLOUD – Das Magazin der Fernfachhochschule Schweiz vom Mai 2016

Interview: Natascha In-Albon