Gender Diversity

«Wir sind zu wenig ehrgeizig in diesem Thema»


«Wir sind zu wenig ehrgeizig in diesem Thema»


Carolina Müller-Möhl gehört zu den engagiertesten und bekanntesten Philanthropinnen in der Schweiz. Mit ihrer Müller-Möhl Foundation engagiert sie sich in den Bereichen Bildung, Standort- und Frauenförderung. Die Individualbesteuerung sieht sie als wesentlichen Schritt auf dem Weg zur Gleichstellung

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Autorin: Susanne Sugimoto


Seit rund 20 Jahren engagieren Sie sich für Gleichstellung. Sie bauen Brücken zwischen den unterschiedlichsten Akteuren und plädieren für die Schaffung von gleichstellungsfreundlichen Rahmenbedingungen. Weshalb ist genau das Schweizer Steuersystem für Sie in dieser Frage zentral?

Unser Anliegen ist, dass mehr Frauen mehr erwerbstätig sind und mehr Entscheidungspositionen einnehmen. Meine langjährige Erfahrung zeigt, dass das aktuelle Steuersystem ein grosses Hindernis ist. Die Einführung der Individualbesteuerung bei verheirateten Paaren würde unserem Anliegen helfen. Es wäre ein Meilenstein.


Was genau soll die Individualbesteuerung beitragen?

Verdient ein Ehepaar mit Kindern doppelt, gerät es in eine höhere Steuerprogression und es verliert die Subventionsbeiträge für die Kinderkrippe. Spätestens beim zweiten Kind deckt das zweite Salär – in der Regel jenes der Frau – gerade noch die Kosten der externen Kinderbetreuung. Dies widerspricht meiner wirtschaftsliberalen Sicht.


Weshalb?

Arbeit muss sich lohnen. Werden für die Steuern beide Gehälter aufaddiert, setzt das falsche Anreize. Zudem wird eine individuelle Besteuerung auch einem anderen Gedanken gerecht. Wir kommen alleine auf die Welt und wir sterben alleine. Das Geschlecht spielt dabei keine Rolle. Und auch der Zivilstand hat in diesem Zusammenhang keine Bedeutung. Das zeigt sich auch darin, dass wir alle einen eigenen Pass haben. Meine Schlussfolgerung: Wir sollten alle selbstverantwortlich eine eigene Steuererklärung unterzeichnen können.


Was könnte die individuelle Betrachtung bewirken?

Die Individualbesteuerung würde positive Beschäftigungsanreize setzen. Mit alliance F haben wir 2019 bei Ecoplan eine Studie in Auftrag gegeben. Sie zeigt, was wir erreichen können, wenn wir die negativen Steuereffekte auf den Lohn der zweitverdienenden Person beseitigen. Wir könnten Arbeitnehmende für den Arbeitsmarkt zurückgewinnen. Die Studie spricht von einer Grössenordnung von 40’000 bis 60’000 Vollzeitstellen.


Mit einem positiven Effekt auf den Fachkräftemangel?

Genau. Die Individualbesteuerung wäre volkswirtschaftlich sinnvoll. Es könnte ein Wirtschaftsimpuls gesetzt werden. Mehr Frauen am Arbeitsmarkt brächten ein besseres Kosten-Nutzen-Verhältnis. Wir haben in der Schweiz ein stark subventioniertes Bildungssystem bis weit ins Studium. Es ist also ein volkswirtschaftlicher Unsinn, wenn zum Beispiel gut ausgebildete Juristinnen und Medizinerinnen nach Heirat und erstem Kind oft für immer aus dem Arbeitsmarkt ausscheiden. Durchschnittlich sind dann diese hochqualifizierten Frauen meist über 30 Jahre nicht mehr im Arbeitsmarkt.


Weshalb ist es für die Frauen so wichtig, im Arbeitsmarkt zu bleiben?

Seit mehreren Jahren beläuft sich die Geburtenziffer auf rund 1,5 Kinder pro Frau. Für einen späteren Wiedereinstieg ist es ganz wichtig, dass Frauen je nach Möglichkeit auch während der Familienzeit nicht gänzlich und zusätzlich für sehr lange Zeit aus dem Berufsleben austreten. Eine kontinuierliche Erwerbstätigkeit von Frauen reduziert ihr Risiko einer Altersarmut. Ihre Gesundheit wäre besser – man weiss heute, dass Erwerbstätige weniger oft krank sind.


Wie wichtig sind finanzielle Aspekte ganz generell für die Gleichstellung?

Die Erwerbstätigkeit bedeutet eigenes Geld, finanzielle Unabhängigkeit und Kaufkraft, eine bessere Altersvorsorge … Es ist zentral.


Wo sehen Sie Lösungsansätze?

Die Lösung liegt meiner Ansicht nach in einem Zusammenspiel von verschiedenen Akteurinnen und Akteuren. Es sollten alle am gleichen Strick ziehen. Wirtschaft, Politik, Gesellschaft, Medien, Kultur und allen voran die Frauen selbst müssen sich gleichermassen für die Gleichstellung einsetzen.


Und wo ist die Philanthropie?

Meine Erfahrung zeigt: Staat und Privatwirtschaft tragen die zentrale Verantwortung. Aber Stiftungen können auf wichtige Themen aufmerksam machen. Sie können schneller und agiler handeln. Fehlen dem Staat die Mittel, um eine Studie zu finanzieren, kann eine Stiftung schnell und unkompliziert einspringen. So können Stiftungen Themen setzen und auf die politische Agenda bringen.


Deswegen haben Sie die Müller-Möhl Foundation gegründet?

Ich verstehe mich als Philanthropin, als Menschenfreundin, wie der Begriff es sagt. Ungerechtigkeiten angehen und Unterstützung anbieten war schon immer mein Credo. So kam es, dass ich 2012 zahlreiche Mandate innehatte. Auslöser für die Gründung der Müller-Möhl Foundation war schliesslich die Bemerkung eines Freundes. Er meinte, man verstehe nicht mehr, was ich alles täte. Ich solle doch ein geeignetes Gefäss schaffen.


Sie wollten Ihre Engagements bündeln?

Ich wollte alle meine Engagements, Interessen und Kooperationen mit gemeinnützigen Organisationen unter einem Dach zusammenfassen. Und ich wollte die Arbeit professionalisieren.


Das heisst?

Wir sind heute ein Viererteam. Und natürlich arbeiten wir zusätzlich mit externer Unterstützung, etwa bei juristischen Fragen.


Sie engagieren sich in den Bereichen Bildung, Standortförderung und Vereinbarkeit von Familie und Beruf respektive Frauenförderung. Wie ist dieses Tätigkeitsfeld entstanden?

Es sind alles Themen, die in der Schweiz zum Zeitpunkt der Gründung der Müller-Möhl Foundation ein stiefmütterliches Dasein führten, insbesondere das Thema «Frau».


Wie hängen die von Ihnen unterstützten Bereiche zusammen?

Diese Bereiche gehen Hand in Hand. Bspw. erreichen wir durch mehr und bessere frühkindliche Bildung, Betreuung und Erziehung eine bessere Vereinbarkeit von Beruf und Familie. Dies gilt für die Mütter wie für die Väter. Wir haben dies mit einer Studie belegt: Wenn die Eltern wissen, dass ihre Kinder gut gefördert und weitergebildet werden, fühlen sie sich sicherer. Das ist die Basis für Vereinbarkeit von Beruf und Familie. Weiterbildung ist verknüpft mit der Standortförderung. Mehr berufliche Wiedereinsteigerinnen tragen zu einem höheren Wirtschaftswachstum bei. Dies bedeutet Standortförderung und einen Beitrag zur Behebung des Fachkräftemangels. Dort ergeben sich auch Überlappungen mit anderen meiner Mandate, etwa mit jenem bei Avenir Suisse.


Wie unterstützen Sie berufliche Wiedereinsteigerinnen?

Die Müller-Möhl Foundation unterstützt unter anderem das Programm der Universität St. Gallen «Women Back to Business». Seit mehr als 13 Jahren, von Anfang an. Es bietet bspw. Antworten auf den Fachkräftemangel. Wir brauchen qualifizierte Berufsfrauen, um diesem zu begegnen. Dies hilft bei der Regional- und Standortförderung und trägt zu künftigem Wohlstand bei. Das Programm gibt es zudem auf Englisch, es wird ständig weiterentwickelt und wird bald auch online angeboten werden.


Hat sich das Programm bewährt?

Viele Frauen und Mütter wollen wieder ins Berufsleben einsteigen. Sie fühlen sich aber nach längerer Abwesenheit aus dem Beruf unsicher. Eventuell sind sie zu wenig qualifiziert oder sie haben ihre Karriere zu wenig geplant, vielleicht fehlt es an Selbstvertrauen und sie haben sich kaum vermarktet. Oft finden die Frauen, nachdem sie mit 30 Jahren Kinder geboren haben, für den Rest des Lebens kaum in den Arbeitsmarkt zurück. Hier setzt «Women Back to Business» an. Das hochwertige Programm wurde gemeinsam mit Prof. Dr. Gudrun Sander von der Universität St. Gallen entwickelt. Die Müller-Möhl Foundation hat über die 13 Jahre vor allem als Ideengeberin gewirkt. Wir haben Zeit investiert, Türen geöffnet und das Projekt mit unserer langjährigen Erfahrung begleitet und finanziell unterstützt. So arbeiten wir als Stiftung immer.


Wie hoch ist die Erfolgsquote?

Drei Viertel der Teilnehmerinnen gelingt der erfolgreiche Wiedereinstieg. Damit liefert das Programm einen wertvollen Beitrag für die Gleichstellung. Die Frauen sind zurück im Arbeitsmarkt, können sich beruflich verwirklichen, leben Eigenständigkeit und sind aufgrund der grösseren Sensibilisierung für finanzielle Aspekte besser abgesichert.


Wie kann für die finanziellen Aspekte sensibilisiert werden?

Mit der Förderung von Financial Literacy, das heisst Allgemeinbildung in finanziellen Fragen, tragen wir dazu bei, einerseits Frauen für Finanzen zu begeistern und andererseits bei anderen Projekten Jugendliche vor Verschuldung zu bewahren. Finanziell eigenständige Bürgerinnen und Bürger mit unternehmerischem und finanziellem Wissen handeln bewusster.


Wie schätzen Sie die Situation bezüglich Gleichstellung in der Stiftungswelt ein?

Es herrscht eine grosse Männerdominanz. 80 Prozent der Präsidien sind von Männern besetzt. Rund ein Drittel der Stiftungsgremien sind rein männlich. Diese Entscheidungsgremien, die Milliarden von Franken verwalten, bilden definitiv nicht die Gesellschaft ab. Ändern lässt sich das nur, indem man in Stiftungen, in welchen man selbst sitzt, konsequent Frauen nachzieht. Allerdings ist das nicht immer möglich.


Weshalb?

Es gibt Stiftungen mit Statuten, die verlangen, dass die Geldgeber eine Vertretung im Stiftungsrat haben. Kommt das Geld von einem Privatunternehmen mit männlichem CEO und Verwaltungsratspräsidenten und einer der beiden muss in der Stiftung Einsitz nehmen …


… dann ist es ein strukturelles Problem?

Ja, sehr.


Wie liesse sich demnach die Gleichstellung in den Unternehmen fördern?

Entscheidend ist, dass die Rahmenbedingungen stimmen. Edge, eine unserer Partnerorganisationen, ist die führende globale Bewertung und Unternehmenszertifizierung für die Gleichstellung der Geschlechter. Mit einem Assessment-Tool kann ein Unternehmen überprüfen, wie es bezüglich Gleichstellung im Vergleich zu anderen Unternehmen steht. Untersucht wird etwa Entlöhnung, Beförderungen oder Mentoring.Das Tool zeigt auch das Verbesserungspotenzial auf. Wer den Prozess durchlaufen hat, erhält zudem ein Zertifikat.


Dass es noch Zertifikate gibt, zeigt, dass es noch keine Selbstverständlichkeit ist. Gleichzeitig ist Diversity seit Jahrzehnten ein Thema. Zeigen sich Ermüdungserscheinungen?

Der Global Gender Gap Report 2020 des WEF führt die Schweiz bei der wirtschaftlichen Partizipation der Frauen auf Platz 34 auf. Während wir bei allen anderen Indizes mit wirtschaftlicher Aussagekraft immer unter den Ersten liegen. In der Gleichstellungsfrage sind wir einfach zu wenig ehrgeizig!


Sollte es eine Rolle Gender-Diversity in jedem strategischen Gremium geben?

Das ist ein guter Vorschlag. Insbesondere wenn sich das Gremium und die Stiftung weiterentwickeln wollen und sich am Puls der Zeit bewegen möchten.


Sie engagieren sich neben Bildung und Standortförderung auch im kulturellen Bereich.

Wir haben eine Kooperation mit der Orpheum Stiftung. Diese unterstützt junge Solistinnen und Solisten der klassischen Musik. Als ich angefragt wurde, war meine erste Reaktion: Das ist nicht wirklich mein Gebiet – ausser wir unterstützen Frauen in der klassischen Musik. Beim genaueren Hinsehen haben wir rasch realisiert, wie selten Spitzenpositionen in der klassischen Musik von Frauen belegt sind. Es gibt nur sehr wenige Dirigentinnen und Orchesterchefinnen. Auch Solistinnen sind viel seltener auf Bühnen anzutreffen als die männlichen Vertreter. Obwohl wir uns doch eigentlich einig sind, dass Talent kein Geschlecht kennt. Mit unseren Förderkonzerten wollen wir einen Kontrapunkt setzen, indem wir diesen herausragenden Musikerinnen eine Bühne bieten. Denn nur was man sieht, das glauben wir auch – seeing is believing. Weibliche Vorbilder ziehen weitere Talente nach sich.


Der zweite Frauenstreik hat mobilisiert …

Der zweite Frauenstreik 2019 hat gezeigt, dass die Frauen untereinander solidarisch sind. Das hat mich berührt. Und es ärgert mich, wenn Frauen sagen, es sei doch alles gut; wenn Frauen komplett negieren, dass es klar identifizierte strukturelle Hindernisse gibt, auf staatlicher und unternehmerischer Ebene. Hinzu kommen Unconscious Biases. All das behindert bis heute, dass Frauen beruflich gleichgestellt sind und eine gleichgestellte berufliche Karriere machen können.


Wie sehen Sie die Zukunft?

Ich verspreche mir, dass das 50-jährige Jubiläum zum Frauenstimmrecht, welches wir gemeinsam feiern sollten, uns einen gehörigen Ruck gibt, auch für den Prozess der Einführung einer Individualbesteuerung. Ich sehe nur dann eine gleichgestellte Zukunft, wenn sich eine Mehrheit der Frauen – wir sind ja statistisch in der Mehrheit – für die Gleichstellung einsetzt.



Philanthropin aus Überzeugung


Carolina Müller-Möhl startete im Jahr 2000 mit dem Single Family Office die auf Investment spezialisierte Müller-Möhl Gruppe. 2012 hat sie die Müller-Möhl Foundation gegründet. Sie war Verwaltungsrätin der Nestlé S.A. und ist heute unter anderem Verwaltungsrätin der AG für die NZZ und in diversen weiteren Gremien engagiert. Zentrale Werte sind für sie Eigenverantwortung, Eigenständigkeit, Mut, Toleranz, Gerechtigkeit und Leistungsbereitschaft. Sie versteht sich als engagierte Bürgerin. Sie glaubt an die Selbstverantwortung der Menschen und an ein liberales Werte- und Wirtschaftssystem.


Das Interview ist am 26. Februar 2021 in der Zeitschrift “

The Philanthropist

“ erschienen.