Standortförderung

Den Gemeinden kommen die Milizionäre abhanden


Kolumne von Carolina Müller-Möhl

Den Gemeinden gehen die Milizionäre aus. Es macht den Anschein, dass in der Ego-Gesellschaft die Freiwilligenarbeit aus der Mode gekommen ist. Neben dem Schwingen existiert ein Nationalsport, der nicht nur patriotische Gefühle wachruft, sondern auch einer Aargauer Gemeinde den Namen gibt: Hornussen. Im September 2013 vermeldete die «Aargauer Zeitung», dass sich ausgerechnet im Ort mit dem urschweizerischen Namen keine Kandidaten für drei freie Sitze im Gemeinderat gemeldet hätten. Nicht viel besser sah es aus in den Nachbargemeinden, wo schliesslich nur mit Ach und Krach die Lücken gestopft werden konnten.

Dass es vor allem in den Gemeinden mit weniger als 1000 Einwohnern keine echten Wahlen mehr gibt, kommt häufig vor. Eine gesamtschweizerische Umfrage bei allen Mitgliedern der Gemeinderäte ergab, dass nur gerade 62 Prozent sich einer Kampfwahl stellen mussten. Mehr als ein Drittel wurde also eher «berufen» als gewählt. Das ist weniger erstaunlich, wenn man bedenkt, dass in den 2352 Gemeinden rund 100 000 Bürgerinnen und Bürger als Gemeinderäte, in der Schulpflege, der Baukommission, der Fürsorgekommission und anderen Ämtern ihren Dienst an der Allgemeinheit verrichten. Professionalisiert sind diese Ämter nur ganz selten. 80 Prozent der Gemeindepräsidenten und über 90 Prozent der anderen Gemeinderatsmitglieder üben ihre Funktion nebenamtlich aus. «Milizsystem» nennt sich dieser freiwillige Einsatz, auf den die Schweiz zu Recht stolz ist. Aber selbst dort, wo eine gute Entschädigung lockt – ein National- oder Ständerat verdient fix 130 000 Franken – oder nationale Bekanntheit das Amt attraktiv machen, nimmt die Lust am freiwilligen Einsatz für das Gemeinwesen ab. Leistete 1997 noch jeder Zweite einen unbezahlten Beitrag an die Allgemeinheit, so waren es 2010 nur noch 37 Prozent. Tendenz fallend.

Das sollte uns beunruhigen. Neben der direkten Demokratie und dem Föderalismus ist das Milizsystem nämlich einer der wichtigsten Pfeiler unserer Staatsidee. Dieser erodiert aber, wenn sich auf der lokalen Ebene keine Kandidaten mehr finden lassen und im nationalen Parlament Berufspolitiker dominieren, die selten einer Tätigkeit ausserhalb des Staates und der Verwaltung nachgegangen sind. Im Ständerat tendiert die Zahl der Milizpolitiker gegen null, und gerade noch 13 Prozent der Nationalräte üben einen Beruf aus, der sie mehr beschäftigt als ihr Mandat in Bundesbern.

Im Gegensatz etwa zu Deutschland nehmen wir den Staat nicht als etwas Fremdes wahr, sondern beteiligen uns an seiner Gestaltung. Das Mitwirken in der Politik und das Mitbestimmen gerade in den Gemeinden schaffen ein Verständnis für die Themen, die anzupacken und die Probleme, die zu lösen sind. Der Milizgedanke ist Ausdruck eines beinahe genossenschaftlichen Staatsverständnisses, das die Distanz zum Staat verringert und die Mitverwaltung durch die Bürger als selbstverständlich erscheinen lässt. Diese Selbstverständlichkeit droht verloren zu gehen. Genauso, wie es kaum gelingt, die iPhone-Generation an die Urnen zu bringen, wird es schwierig, sie zu motivieren, sich zig Stunden in wenig glamourösen Gremien mit Anliegen zu befassen, die nicht wirklich attraktiv sind. Dabei ist Nachwuchs dringend gefragt.

Wie aber können wir eine mobile Generation, die weniger verwurzelt ist, für die Kernarbeit gewinnen, die im Stillen so viel Gutes bewirkt? Indem wir aufhören, permanent die «Classe politique» zu verunglimpfen und jene wertschätzen, die sich für das Allgemeinwohl starkmachen! Wie etwa Unternehmer Ruedi Noser, der nicht nur eine gewichtige Stimme in Bundesbern ist, sondern sich auch aktiv in diversen gemeinnützigen Organisationen und Stiftungen engagiert. Und die Unternehmen sollten sich wieder darauf besinnen, dass der Zusammenhalt der Schweiz sehr stark auch von einem harmonischen Miteinander von Staat, Gesellschaft und Wirtschaft abhängt. Mitarbeitende müssen die Möglichkeit haben, von ihrem knappen Zeitbudget einen Teil abzuschneiden, der dem grossen Ganzen zugutekommt. Erwerbs- und Milizarbeit müssen miteinander vereinbar sein. Nur dann sind die Bedingungen erfüllt, damit der berühmte Satz von John F. Kennedy mit Inhalt gefüllt werden kann. Er sagte: «Frag nicht, was dein Land für dich tun kann, frag, was DU für dein Land tun kannst.»

Ein guter Anfang.


Erschienen in der Schweiz am Sonntag vom 8. November 2015.