Vereinbarkeit Beruf und Familie

Visionen braucht das Land


Kolumne von Carolina Müller-Möhl

Als letzten Freitag Dee Dee Bridgewater ihr Konzert am Festival da Jazz in St. Moritz mit dem Song „What a Wonderful World“ beendete, war es im Raum für einen kurzen Augenblick mausestill. Die amerikanische Jazzsängerin beeindruckte die Anwesenden mit ihrem Temperament und ihrer Bühnenpräsenz und liess ihre Zuhörer teilhaben an der Vision einer Welt, in der alles wunderbar ist.

Im Rahmen der Konzertreihe „Women in Jazz“ präsentierte sie Stücke ihres jüngsten Albums „Dee Dees Feathers“, das sie als Hommage an die Geschichte, Kultur und Menschen von New Orleans beschreibt. Diese für die Jazzgeschichte bedeutende Stadt gilt nicht umsonst als die „Wiege des Jazz“, wo sich eine von Männern dominierte Musikszene entwickelte, in der sich die weiblichen Künstlerinnen erst emanzipieren mussten – vom erotischen Objekt zur ernst genommenen Künstlerin.

Auch heute noch stehen Jazz-Musikerinnen häufig im Schatten ihrer männlichen Kollegen. Um dies zu ändern und um den wunderbaren Künstlerinnen eine Plattform zu bieten, entstand die Reihe „Women in Jazz“. Was als Idee in einem Gespräch begann, wurde nur dank dem visionären Geist des Festivaldirektors Christian Jott Jenny im letzten Jahr zur Realität. Neben Dee Dee Bridgewater treten diesen Sommer bei „Women in Jazz“ Lizz Wright, Dianne Reeves, Othella Dallas und Candy Dulfer in St. Moritz auf.

Das Beispiel dieser Konzertreihe zeigt, Visionen können verwirklicht werden. „Wenn das Leben keine Vision hat, nach der man strebt, nach der man sich sehnt, die man verwirklichen möchte, dann gibt es auch kein Motiv, sich anzustrengen“, sagte einst der Psychoanalytiker Erich Fromm. Aber nicht nur persönliche Lebensentwürfe sind von Visionen geprägt. Ebenso beeinflussen sie die Entwicklungen in Politik und Wirtschaft. Ohne sie gäbe es keine obligatorische Schulpflicht, keine Frauen an Universitäten und keine Veranstaltungen wie das Swiss Economic Forum (SEF). Visionen haben dazu beigetragen, dass sich die Schweiz stets weiter entwickelt hat und heute zu den Ländern mit dem höchsten Lebensstandard in Europa gehört.

Doch anstelle sich auf den Lorbeeren auszuruhen, sind neue Visionen in Wirtschaft und Politik dringend nötig. Denn anstatt mit aller Kraft Innovation zu fördern, exzellente Bildung anzubieten und die gescheitesten Köpfe aus dem In- und Ausland anzuziehen, schlagen wir uns herum mit wirtschaftsfeindlichen Initiativen, einer Beschränkung der Personenfreizügigkeit, einer ausufernden Bürokratie und einer Regulierungswut, die unsere Unternehmen, insbesondere Start-ups zu ersticken droht.

Die Schweiz darf sich nicht im eigenen Korsett einschnüren, sondern muss ihren Blick nach vorne richten. So wie dies etwa der CEO von Hofmann-La Roche Severin Schwan am diesjährigen SEF in Interlaken tat, als er dafür plädierte, aus der Schweiz noch mehr einen Ort der wissenschaftlichen Spitzenleistungen zu machen.

Seine überzeugend vorgetragene These, man solle auch Misserfolge feiern, ist im Umgang mit solchen Visionen von Bedeutung. Häufig werden sie deshalb nicht verwirklicht, weil die Angst zu scheitern dominiert. Ist man aber bereit aus Fehlern zu lernen, dann kann man sogar Niederlagen etwas Gutes abgewinnen. Mut ist also gefragt, wenn wir Ideen realisieren wollen.

Zum Glück ist dieser mutige visionäre Geist nicht nur am Festival da Jazz oder in Interlaken anzutreffen. Schweizweit sind immer wieder spannende Projekte zu verfolgen, wie etwa zurzeit die Standortinitiative Digital Zurich 2025. Sie will aus dem Grossraum Zürich bis 2025 ein digitales Zentrum Europas machen. Langsam macht sich in der Politik die Erkenntnis breit, dass unsere Zukunft nur dort liegt, wo eine hohe Wertschöpfung erzielt werden kann. In diesem Sinne verabschiedete das Parlament einen nationalen Innovationspark. An verschiedenen Schweizer Standorten sollen Firmen aus aller Welt ihre Forschungseinrichtungen ansiedeln und so die Wettbewerbsfähigkeit der Schweizer erhalten.

Es ist gut, dass bei diesem Projekt die Standortkantone, die Wirtschaft und Wissenschaft Hand in Hand arbeiten. Noch besser wäre es, wenn sich unter ihnen ein mutiger Festivaldirektor befände, der Visionen zu verwirklichen vermag. Denn nur so werden wir in der Schweiz die besten Talente anziehen und bahnbrechende Erfindungen und Produkte entwickeln.