Standortförderung

Abkühlung gesucht: Migration positiv gesehen


Kolumne von Carolina Müller-Möhl

Meteorologisch ist die heisse Jahreszeit vorbei, politisch beginnt sie erst. Hitzige Themen werden die Wahlen im Herbst dominieren. So etwa das «Asylchaos», das populistisch beschworen wird. Dabei überschattet diese Diskussion eine wichtige Angelegenheit, die wir in naher Zukunft nur mit Migration lösen können: Der Fachkräftemangel, der unserer Wirtschaft droht.

Gelegentlich tut es gut, aus dem ideologischen Hickhack der aktuellen Politdebatte in der Schweiz auszubrechen und dem fest gefügten Rechts/Links-Schema harte Fakten gegenüberzustellen. Genau diese wurden am Reinhard-Mohn-Symposium in Berlin zum Thema «Migration» präsentiert. Für einmal warfen Referentinnen Flüchtlinge, Asylbewerber und bestens ausgebildete Arbeitskräfte nicht unbesehen in einen Topf. Nein, sie bemühten sich um ein differenziertes Bild, das es gerade bei diesem Thema dringend braucht. Wie meist ist die Welt nämlich viel komplexer, als sie gewisse Politiker im Wahlkampf darstellen. Es ist natürlich einfacher, Ängste vor einer «Überfremdung» zu schüren, als die tatsächlich dringenden Aspekte der Migration emotionslos darzustellen.

Denn Fakt ist, dass gerade die Unternehmen in der Schweiz und Deutschland ohne Einwanderung in absehbarer Zeit unter einem Mangel an Fachkräften leiden werden, der das Wachstum, die Innovations- und Wettbewerbsfähigkeit bedrohen wird. Warum dies so ist, erläuterte Rainer Strack, Partner bei der Unternehmensberatung Boston Consulting Group (BCG), am diesjährigen Rainer Mohn-Symposium. Der Titel seiner Studie: «Die halbierte Generation». Strack spielte damit unter anderem darauf an, dass sich die Alterspyramide in den meisten europäischen Ländern dramatisch verschiebt. Immer mehr ältere Menschen scheiden aus dem Arbeitsprozess aus, immer weniger Junge helfen mit, den letzten Lebensabschnitt der Alten mitzufinanzieren.

Wer gerne damit kokettiert, dass Wachstum doch gar nicht nötig und für alle belastend sei, der möge einen Blick auf seine ganz persönliche Altersvorsorge werfen, um festzustellen, dass eine stagnierende Volkswirtschaft es nie schaffen wird, einer immer älter werdenden Bevölkerung finanzielle Sicherheit zu garantieren.

Der Berater von BCG machte eine ganz einfache Rechnung. Er nahm das durchschnittliche Wachstum und den Fortschritt der Arbeitsproduktivität eines Landes in den letzten 20 Jahren und berechnete, wie viele zusätzliche Menschen es im Arbeitsprozess bräuchte, um das gleiche Wachstum auch in Zukunft zu erreichen. Die Studie präsentiert eindrucksvolle Zahlen: Will etwa Deutschland das Wachstum seiner Wirtschaftsleistung mit der gleichen Rate wie in den vergangenen zehn Jahren fortführen, könnten bis 2030 bis zu 7,7 Millionen Arbeitskräfte fehlen.

Auch die Schweiz ist auf Fachkräfte aus dem Ausland angewiesen. Obwohl wir zu Recht stolz auf unsere strebsame und unermüdliche Arbeitseinstellung sind, könnten wir unseren Wohlstand und das dazu nötige Wachstum nie nur mit einheimischen Arbeitskräften bewältigen. Schon 2012 kamen täglich gegen 265 000 Grenzgänger vor allem nach Genf und Basel, um hier ihrer Beschäftigung nachzugehen und unseren Bedarf an Fachkräften zu decken. Es liegt auf der Hand: Wenn wir uns abschotten und die Unternehmen nicht mehr genügend qualifizierte Mitarbeiter – auch im Ausland – rekrutieren dürfen, werden wir in den nächsten zehn bis zwanzig Jahren kaum mehr wachsen können. Bei einem Wirtschaftswachstum von zwei Prozent drohe der Schweiz bis 2060 ein Mangel bis zu 1,4 Millionen Fachkräften, berechnete Conny Wunsch, Professorin für Arbeitsmarktökonomie an der Universität Basel.

Im Getöse des Wahlkampfes werden die Vorteile der Migration wohl nicht gehört werden. Dennoch werden wir umdenken müssen. Migration ist in Wahrheit nicht eine bedrohliche Flut von Asylanten und Flüchtlingen, sondern mehrheitlich ein grosses Potenzial von jungen Menschen und Arbeitskräften, das wir dringend brauchen. Und sie ist eine mögliche Antwort auf die Frage, wie die drohende Arbeitslücke geschlossen werden kann.

Ich würde mir wünschen, dass im heissen Wahlherbst einige einen kühlen Kopf bewahren und nicht den agogischen Parolen folgen, sondern den einfachen Tatsachen in die Augen schauen. Und diese sprechen für eine «soziale Marktwirtschaft für Migration», die unseren Wohlstand und unsere Innovationskraft sichert.