Standortförderung

Charlotte Jacquemart – Bald fehlen 430 000 Angestellte




Der Schweiz und Deutschland droht ein drastischer Mangel an Arbeitskräften. Das wird zunehmend zum Standortnachteil. Von Charlotte Jacquemart







Die Schweiz ist einzigartig – auch bezüglich ihres Arbeitsmarktes: Es ist das einzige Land Europas, das die Nachfrage nach Arbeitskräften heute schon nicht selber decken kann. Um präzise zu sein: Derzeit fehlen 260000 Arbeitskräfte, um alle Jobs in unserem Lande zu erledigen. So viele Menschen pendeln nämlich täglich über unsere Grenzen, um auszuhelfen. Doch es kommt noch dicker: Bis in sechs Jahren wird die Lücke auf 430000 angewachsen sein, glaubt man einer erstmals erfolgten Studie des Beratungsunternehmens Boston Consulting Group (BCG). Im Jahr 2030 werden uns gar über 900000 Mitarbeiter fehlen.


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ie Studie ist die erste überhaupt, die ein umfassendes Bild davon zeichnet, wie es in einzelnen Ländern um Angebot und Nachfrage von Arbeitskräften 2020 und 2030 stehen wird. Die 25 untersuchten Volkswirtschaften sind für 80%der globalen Wirtschaftsleistung verantwortlich. Noch dramatischer als die Schweiz dürfte es Deutschland treffen: In sechs Jahren fehlen dort 2,4 Mio. Mitarbeiter, im Jahre 2030umdie 10 Mio. Nur Brasilien ist noch stärker betroffen. Rainer Strack, Seniorpartner von BCG und verantwortlich für die quantitative Analyse, sagt: «Wir sind an einem Wendepunkt angelangt. In vielen Ländern beginnt das Angebot an Arbeitskräften zu schrumpfen. Das gab es in der Geschichte nur bei grossen Kriegen oder Epidemien.»


Laut Strack hätte die Politik schon vor Jahren mit Massnahmen auf die Entwicklung reagieren sollen. «Jetzt sind wir sehr spät dran. Die Lage ist alarmierend.» Bis 2030 verschärft sich die Situation noch einmal markant: Selbst Russland, China und Brasilien können dannzumal die Nachfrage nach Arbeitskräften nicht mehr selber decken. Nur in wenigen grossen Volkswirtschaften wächst das Angebot Angebot bis 2030 noch stärker als die Nachfrage, so in den USA, Südafrika und Indien.


Die Zahlen der Studie scheinen solide berechnet, zumal alle Jahrgänge, die ab 2014 geboren werden, frühestens 2030 in den Arbeitsmarkt eintreten. Für die Berechnung des Angebots haben die BCG-Ökonomen, ausgehend von der heute werktätigen Bevölkerung, Geburtenraten, Immigrationstrends und die Arbeitsmarktpartizipation von bestimmten Gruppen eines Landes einbezogen.



Grosse Unsicherheit


Die Zahlenbasis stammt von der International Labor Organization (ILO). Für die Kalkulation der Nachfrage nach Arbeitskräften stützen sich die Autoren auf das Zahlenmaterial der Economist Intelligence Unit und fragen sich, wie viele Arbeitskräfte ein Land braucht, damit es mit den gleichen Wachstumsraten (real) und Produktivitätsfortschritten unterwegs sein kann wie in den letzten 10 beziehungsweise 20 Jahren. Die Differenz zwischen Nachfrage und Angebot an Arbeitskräften gibt entweder ein Überangebot – oder eine Lücke (siehe Grafiken). Einberechnet ist eine Sockelarbeitslosigkeit von bis zu 5%.


Boris Zürcher, Leiter der Abteilung Arbeit beim Seco, hält die Zahlen der Studie für aussagekräftig: «Wir erstellen selbst keine quantitativen Szenarien bezüglich der Fachkräfteknappheit. Aber die genannten Zahlen scheinen mir durchaus plausibel.» Der Arbeitschef im Seco hält die Überlegungen in Szenarien für hilfreich. «Weil wir in einer Zeit leben, in der bezüglich Zuwanderung grundsätzlich grosse Unsicherheit herrscht.» Laut Zürcher wird sich der Arbeitskräftemangel, je nach Ausgestaltung eines allfälligen zukünftigen Zulassungssystems infolge der Abstimmung über die Immigration, «zweifellos zusätzlich verschärfen». Was passiert, wenn das Angebot an Arbeitskräften schrumpft, illustriert Japan seit vielen Jahren: Das Land stagniert wirtschaftlich, mit entsprechenden Wohlstandsverlusten. Für die Schweiz bedeuteten 400000 Arbeitskräfte weniger einen potenziellen Steuerausfall von 8 Mrd. Fr., Geld, das nicht verteilt werden kann.


Dass das Arbeitskräftedefizit Deutschland schon 2015 kräftig einheize, sei für die Schweiz folgenreich, glaubt Sarah Kane, Partnerin beim Berater Deloitte. Für deutsche Arbeitskräfte bleibe die Schweiz zwar attraktiv, meint sie, aber es werde immer schwieriger, talentierte Spezialisten anzuziehen. Kane arbeitet heute schon oft mit Firmen zusammen, die auf Talente aus dem Ausland angewiesen sind. «Einer unserer Kunden baut in der Schweiz gerade eine neue Geschäftseinheit auf. Von den Bewerbungen kommen weniger als 10% aus der Schweiz.» Der Arbeitskräftemangel hebe die Vorteile der Schweiz, wie beispielsweise das Steuerregime, für internationale Firmen wieder auf, sagt Kane.


Matthias Naumann, Chef von BCG Schweiz, teilt diese Einschätzung. Er sagt: «Für die Standortwahl von internationalen Firmen wird es in Zukunft nicht mehr heissen: Wo ist es billig, sondern wo finden wir die Talente, die wir brauchen?» Ein grosses Defizit prophezeit Naumann dem Gesundheitswesen, den Banken und Versicherungen der Schweiz.


Wie kann die Schweiz die Lücke füllen? Der Arbeitgeberverband will das Inländerpotenzial besser nutzen. Das findet sich vor allem bei Frauen, die im internationalen Vergleich zwar stark am Arbeitsmarkt aktiv sind, aber in 60%der Fälle nur teilzeitlich. Das zeigt sich in der tiefen wöchentlichen Stundenbelastung (siehe Tabelle). Um Frauen eine bessere Ausgangslage zu geben, fordert Arbeitgeberchef Roland Müller Anpassungen im Schulsystem. «Wir müssen den Wiedereinstieg der Frauen fördern und versuchen, ihre Pensen zu erhöhen. Dafür benötigen wir bessere Tagesstrukturen, welche dies den Frauen erlauben.»



Work-Life-Balance wird wichtiger


Auch negative Anreize bezüglich Frühpensionierung will Müller abbauen. Unternehmen müssten ihre Personalplanung weitsichtig angehen und frühzeitig auf Aus- und Weiterbildung für alle Mitarbeitende setzen, sagt Müller. «Zur Unterstützung dieser Aktivitäten haben wir die Initiative Arbeitsmarkt 45+ lanciert. » Mit 9,9% schon hoch ist bei uns im internationalen Vergleich die Arbeitsmarktpartizipation der 65+. In Deutschland liegt sie bei 4,1%, in Frankreich bei 1,8%. In den USA sind 18% der über 65-Jährigen noch erwerbstätig. Naumann von BCG glaubt, dass die Lücke mit Schweizern alleine nicht zu stopfen ist, «selbst wenn Frauen und ältere Semester mehr und länger arbeiten und wir noch produktiver werden». Gleichzeitig löse auch die Migration alleine das Problem nicht mehr.


Seine Kollegin von Deloitte hält deshalb weitere Massnahmen für nötig: Der Prozess, internationales Personal zu rekrutieren, müsse dort, wo Engpässe bestünden, vereinfacht werden. Zudem schlägt sie eine globale Imagekampagne für die Schweiz vor, welche die Vorteile des Landes für die Entwicklung der Karriere hervorhebt. «Die junge Generation ist empfänglich dafür, weil sie mehr Gewicht legt auf die Work Life Balance. » Am wichtigsten aber sei, so Kane, dass die Schweizer selbst die Wurzeln ihres jahrzehntelangen Erfolgs als Volkswirtschaft wieder realisierten: «Verantwortlich dafür ist die Mischung von Schweizer und internationalen Talenten.» Die Fussball Nati beweist es.



Mit freundlicher Genehmigung der NZZ am Sonntag.


Ch., Jacquemart. (2014).

Bald fehlen der Schweiz 430 000 Angestellte.

NZZ am Sonntag am 13. Juli 2014.