Vereinbarkeit Beruf und Familie

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Lebensentwürfe im Wandel


von Ladina Schauer

Kürzlich sass ich bei einem Kaffee mit einer Freundin, die dieses Jahr heiraten wird. Sie ist  Mitte dreissig, lebt seit einigen Jahren mit ihrem Freund zusammen, arbeitet Vollzeit und hat  keine Kinder. Meine Freundin erzählte, dass die Nachricht von ihrer Hochzeit in ihrem Umfeld  bei praktisch allen die gleiche Reaktion ausgelöst habe: „Ihr heiratet? – Wieso?“ Ihre Geschichte ist Sinnbild eines gesellschaftlichen Wandels, der mit der Frauenbewegung der  späten 60er-Jahre seinen Anfang nahm. Der Wertewandel hin zu einem individualistischen Gesellschaftsbild, in dem das eigene selbstbestimmte Leben im Vordergrund steht, führte zu  einer Abkehr vom traditionellen, klassisch-bürgerlichen Familienmodell bestehend aus Mann,  Frau und Kind sowie dem klaren Verständnis der Geschlechterrollen: der Mann als Ernährer, die Frau als Mutter und Hausfrau.

Gemäss einer Studie der Bertelsmann Stiftung ging dieser Mentalitätswandel mit der Zunahme von nicht ehelichen Lebensgemeinschaften, Ehescheidungen, dem Rückgang der Geburtenrate sowie einer steigenden Partizipation der Frauen an der Arbeitswelt einher. Das konventionelle männliche Ernährermodell erodierte. Heute sind meist beide Partner erwerbstätig. Dabei arbeitet häufig einer Vollzeit und der andere Teilzeit. Letztere sind fast immer die Frauen. Während in der Schweiz mehr als die Hälfte der Frauen einer Teilzeitbeschäftigung nachgeht, ist es unter den Männern nur einer von sieben.

Aufgrund des gesellschaftlichen Wandels hat sich nicht nur die Art der Erwerbstätigkeit verändert, sondern auch die Formen partnerschaftlichen Zusammenlebens. „Patchworkfamilien“ sind an der Tagesordnung. Neue Wohnformen wie Cohousing kommen in Mode; Gleichgesinnte, Jung und Alt, Familien und Singles, leben gemeinsam in Wohnparks und teilen sich  Gemeinschaftsräume wie Grossküche und Wohnraum. Familie umfasst längst nicht mehr nur Mann-Frau-Beziehungen, sondern auch gleichgeschlechtliche Paare. Kurzum, die Formen sozialen und familialen Zusammenlebens verändern und vervielfältigen sich und neue Lebensformen entstehen. Dies hat tiefgreifende Auswirkungen auf Gesellschaft und Wirtschaft und insbesondere auf den Arbeitsmarkt.

Wie sehen die Lebensentwürfe von Männern und Frauen in Zukunft aus, und ist die Schweiz mit ihren Strukturen und Rahmenbedingungen für die Zukunft gewappnet? Dr. Heiko von der Gracht, Leiter des Think Tanks für Zukunftsmanagement am Institute of Corporate Education e.V., skizziert verschiedene Zukunftsszenarien für die  Gesellschafts- und Arbeitswelt 2035+. Je nach der Wertorientierung zukünftiger Gesellschaften – traditionell oder progressiv – und je nach Grad der Digitalisierung der Arbeitswelt sind verschiedene Szenarien für die Zukunft denkbar: Leben wir bald in einer Cyberpunk-Gesellschaft, in der digitale Online-Arbeitsmärkte den traditionellen Arbeitsmarkt, wie wir ihn heute kennen, verdrängt haben? Werden wir eine Welt vorfinden, in der virtuelle Sozialnetzwerke das persönliche Umfeld und Familienband ersetzt haben? Oder ist eher das Szenario der Abschott-Gesellschaft realistisch? Hier haben Menschen das Vertrauen in die Globalisierung und die Digitalisierung durch Cyberattacken und andere globale Bedrohungen verloren und kehren zu traditionellen Werten zurück. Familie, das persönliche Umfeld, die Natur und Nationalstaaten bedeuten dabei Geborgenheit und Schutz.

Betrachten wir neueste Entwicklungen der Arbeitswelt, wird klar: Digitalisierung hat stattgefunden und findet weiterhin statt. Durch Computer, iPad und Handy ist man immer und überall erreichbar. Start-ups wie Airbnb, die via Onlineplattformen Produkte zum Teilen anbieten, wurden zu Erfolgsunternehmen. Immer mehr Arbeitgeber ermöglichen durch neue technische Lösungen Home-Office und flexible Arbeitszeiten.

Sind wir also auf dem besten Weg zur virtuellen Cyber-Gesellschaft? Gut möglich – und doch: In der Schweiz verlassen noch immer neun von zehn Personen zum Aufsuchen des Arbeitsplatzes ihr Wohngebäude, begeben sich also physisch zur Arbeit.Gleichzeitig scheinen Kinderkriegen und Heiraten in der Schweiz wieder im Trend zu liegen: So kamen 2014 in der Stadt Zürich so viele Schweizer Kinder zur Welt wie seit 50 Jahren nicht mehr. Und gemäss Bundesamt für Statistik war das letzte Jahr auch von mehr Eheschliessungen und neu eingetragenen Partnerschaften geprägt. Also doch eine Rückkehr zu einer traditionellen Wertorientierung?

Die beiden Entwicklungen, Digitalisierung und Virtualisierung auf der einen Seite sowie Entschleunigung und Rückzug auf der anderen Seite, scheinen auf den ersten Blick gegensätzlich. Es ist aber möglich, dass die beiden Entwicklungen sich bedingen und verstärken: Je grösser die Beschleunigung in der Welt und je höher der Wettbewerb am globalen Arbeitsmarkt, desto bedeutsamer wird das Abschalten und der Rückzug in die Natur und in das persönliche Umfeld, wie verschiedene Trends bereits zeigen.

Wir blicken einer Zukunft entgegen, in der vielfältige Lebensformen auf der Tagesordnung stehen werden. Die Müller-Möhl Foundation setzt sich deshalb dafür ein, dass jeder und jede seinen ganz persönlichen Lebensentwurf frei gestalten kann. Damit dies für Mann und Frau möglich ist, brauchen wir bessere Rahmenbedingungen für die Vereinbarkeit von Beruf und Familie. Negative Arbeitsanreize für Frauen gilt es zu beseitigen. Durch die gemeinsame Steuerveranlagung von Ehepaaren und einkommensabhängige Krippentarife lohnt es sich heute für Frauen finanziell oft nicht zu arbeiten. Die Individualbesteuerung, wie sie die Operation Libero fordert, oder eine Subventionierung der Kinderbetreuung, die mehr zu arbeiten nicht diskriminiert, würden helfen, diese Missstände zu beheben. Die Wirtschaft muss das Potenzial Frau besser nutzen. Teilzeitarbeit auf Zeit darf kein Karrierekiller sein und diverse Führungsgremien müssen selbstverständlich werden. Nur so sind wir für eine Zukunft gewappnet, die alles verspricht ausser einem: Langeweile.