Jan Dams et al. – Merkel will die Deutschen durch Nudging erziehen
Mit Strategien aus der Verhaltensforschung will Kanzlerin Merkel die Deutschen zu Musterbürgern machen. Kritiker halten das sogenannte Nudging für eine hinterhältige Form der Gängelei.
Die Stellenausschreibung war ungewöhnlich: „Das Bundeskanzleramt sucht am Dienstort Berlin für das Referat Stab Politische Planung, Grundsatzfragen und Sonderaufgaben befristet bis zum Ende der 18. Legislaturperiode drei Referenten“, hieß es vergangenen August. Die drei Bewerber sollten „hervorragende psychologische, soziologische, anthropologische, verhaltensökonomische bzw. verhaltenswissenschaftliche Kenntnisse“ haben. „Merkel will Psycho-Trainer anheuern“, wunderte sich die „Bild“-Zeitung.
Nur wollte die Bundeskanzlerin sich nicht selbst auf die Couch legen. Die drei gesuchten Experten sollen der Kanzlerin beim „wirksamen Regieren“ helfen. Merkel übernimmt damit einen Ansatz, den die amerikanische oder britische Regierungen schon seit Jahren anwenden. Das sogenannte Nudging.
Der Staat nutzt dabei Erkenntnisse aus der Verhaltensökonomie, baut in Gesetze kleine Kniffe ein und bringt Bürger über kleine „Stupser“ dazu, sich besser zu verhalten: Energie zu sparen, fürs Alter vorzusorgen oder sich gesünder zu ernähren.
„Es geht um einen völlig neuen politischen Ansatz. Man kann ohne Gesetze und Verordnungen seine Ziele erreichen“, schwärmt Wirtschaftsprofessor Cass Sunstein, der als geistiger Vater des Stups-Ansatzes gilt, seit er 2008 seinen Bestseller „Nudge: Improving Decisions About Health, Wealth, and Happiness“ veröffentlichte. So groß die Möglichkeiten sind, so groß ist aber auch die Angst vieler vor dem Gestupstwerden.
Menschen handeln gegen ihre Interessen
Kritiker sehen im Nudging eine besonders hinterhältige Form der Gängelei, bei der der Staat den Bürger ohne demokratische Kontrolle manipuliert, bevormundet und sich so letzten Endes seinen Musterbürger formt.
Die Verhaltensökonomie hat die Wirtschaftswissenschaft in den vergangenen Jahren kräftig durcheinandergewirbelt. Sie stellt das lange in Stein gemeißelte Modell des rein rational handelnden Homo Oeconomicus infrage. Menschen sind laut Verhaltensökonomen keine rein rationalen Wesen. Stattdessen tun sie heute etwas, das sie morgen schon bereuen.
Sie trinken oder essen zu viel oder treiben keinen Sport. „Die Wissenschaft hat festgestellt“, sagt Regierungssprecher Georg Streiter, „dass viele Menschen so handeln, dass es ihren eigenen Interessen widerspricht.“
Sachlich-nüchtern wie immer macht sich die Merkel-Truppe an ihre neue Aufgabe heran. Die Kanzlerin will „wirksam regieren“, nicht die Welt verändern. Nach ihren Plänen sollen Bundesministerien der Arbeitsgruppe Gesetzesvorhaben vorlegen, bei denen die Psychologen dabei helfen können, die Wirksamkeit zu erhöhen.
Mehr nicht. Deshalb startet die Truppe auch mit nur drei Mitarbeitern. Deshalb ist ihre Lebensdauer vorerst bis zum Ende dieser Wahlperiode begrenzt. Deshalb soll sie sich eng mit anderen Ministerien abstimmen, damit von dort keine Querschüsse kommen. Und deshalb darf es auf keinen Fall so aussehen, als wolle die Bundeskanzlerin die Nation mit Duftkerzen so einnebeln, dass sie ihr am Ende aus der Hand frisst.
Das ist eine Gratwanderung. Verhaltensökonomen haben herausgefunden, dass oft schon ein kleiner Schubser reicht, damit die Bürger bessere Entscheidungen treffen. Lange Zeit hat die Bundesregierung das ignoriert. Eine Politik, die auf solche relevanten Erkenntnisse verzichte, mache sich anfällig für Manipulationen und Fehler, sagt der Verhaltensökonom Axel Ockenfels von der Universität Köln. „Deshalb ist der Vorstoß der Bundesregierung ein vielversprechendes Experiment.“
Beispiele aus der Obama-Administration
Ein berühmtes Beispiel für so einen Schubs in die „richtige Richtung“ ist die Dessertauswahl in Kantinen. So entscheiden sich Kunden öfter für Obst als Nachspeise, wenn es besser erreichbar platziert wird als Süßigkeiten. Vordenker Sunstein betont immer wieder, dass Nudging die Entscheidung beeinflusst, ohne die Freiwilligkeit der Individuen einzuschränken.
Es ist daher auch oft von „liberalem Paternalismus“ die Rede: Der Staat sorgt wie ein allwissender Vormund für seine Schäfchen, ohne sie das durch Ge- und Verbote spüren zu lassen.
In den Vereinigten Staaten und Großbritannien, wo das wachsende Übergewicht der Durchschnittsbevölkerung ein großes Thema ist, ist Sunstein mit seinen Empfehlungen auf große Resonanz gestoßen. Schon im Wahlkampf 2008 ließ Barack Obama von rund 30 Verhaltensökonomen ein Konzept für die Kampagne ausarbeiten. Später, als Präsident, gründete er genau wie der britische Premier David Cameron eine eigene Nudging-Einheit.
Nudging hat dabei zu einigen Erfolgen geführt. Seitdem auch US-Kinos beim Verkauf von Popcorn deklarieren müssen, wie viel Kalorien in einer Tüte stecken, ist der Konsum drastisch zurückgegangen. Kreditkartennutzer sparen jedes Jahr 20 Milliarden Dollar, seit Visa, Mastercard und Co. ihre Kunden darüber informieren müssen, wenn sie mit ihrer Ratenzahlung im Rückstand sind und höhere Zinsen drohen.
Allerdings fällt die Bilanz von Obamas Nudging-Einheit durchwachsen aus. Wurden am Anfang von Obamas Amtszeit einige ihrer Ideen umgesetzt, wurde es mit der Zeit ruhig um die Truppe.
Die Republikaner waren darüber froh. Sie hielten von vornherein nichts von Nudging und beschimpften Obama als „elitären Big Brother“, der aus den USA einen „Nanny-Staat“ mache. Statt den Lebensberater zu spielen, solle der Präsident die Bürger in Ruhe lassen. Lebensqualität bestehe auch darin, über die Stränge zu schlagen, unvernünftig und vor allem – frei – zu handeln.
Auch deswegen wird im Kanzleramt betont, die USA seien nicht das Vorbild der neuen Einheit. „Wir wollen keinen sanften Paternalismus“, heißt es in Merkels Regierungszentrale. Schwierige politische Entscheidungen sollten nicht durch Psychotricks umgesetzt werden. Der Deutsche soll nicht verändert werden, die Gesetze sollen es, damit sie besser funktionieren. So wie in Dänemark, das im Kanzleramt eher als Orientierung genannt wird.
Nudging: Straßenabfall um 40 Prozent reduziert
Dort haben sich drei Ministerien zusammengetan und das sogenannte MindLab gegründet, eine Art Testlabor für effektive Bürger-Services. Die MindLab-Mitarbeiter versuchen zu verstehen, wie die Dänen mit staatlichen Regelungen zurechtkommen. Sie begleiten Bürger bei Behördengängen oder beobachten sie beim Ausfüllen von Formularen. Dabei fallen ihnen Probleme auf. Oder sie fragen Bürger einfach danach, was verbessert werden kann.
So haben die MindLab-Mitarbeiter etwa von Unfallopfern erfahren, dass die staatliche Betriebsunfallversicherung ungemein bürokratisch ist, woraufhin die Kasse die Prozesse vereinfachte. Oder sie versuchten zu verstehen, warum ausgerechnet Jüngere ihre Steuererklärung nicht elektronisch abgaben, sondern immer noch persönlich beim Finanzamt. Als die Mitarbeiter den jungen Steuerzahlern über die Schultern sahen, lernten sie, dass die Sprache auf der Webseite der Finanzämtern für junge Menschen, die weniger Erfahrung mit Steuererklärungen haben, unverständlich war.
Die dänische Politik verlässt sich aber nicht nur auf die eigenen Leute. So wurde in Kopenhagen ein Vorschlag der Verhaltensökonomen des Danish Nudging Network aufgenommen, auf Bürgersteige grüne Fußabdrücke zu pinseln, die zu Mülleimern führen. Der Abfall auf den Straßen ging daraufhin um beachtliche 40 Prozent zurück.
Auch in Deutschland wird bereits Nudging betrieben, allerdings vor allem in der Wirtschaft. So stellen Unternehmen Drucker auf, die standardmäßig das Papier beidseitig bedrucken. Wen das stört, der muss die Einstellung selbst ändern. Andere Firmen nehmen ihre Mitarbeiter automatisch in eine betriebliche Altersvorsorge auf. Wer das nicht will, muss aktiv widersprechen.
„Wir haben festgestellt, dass solche Standardsetzungen viel effektiver sind, als Menschen über steuerliche Anreize in die private Altersvorsorge zu bekommen“, sagt Sunstein. Auch die Politik bedient sich vereinzelt einiger Stups-Methoden, etwa in Form von Gütesiegeln oder Kennzeichnungspflichten. So müssen Haushaltsgerätehersteller die Energieeffizienzklassen groß auf die Geräte drucken, damit die Verbraucher zu den sparsameren Geräten greifen.
Das Glück der Bürger steigern
Nudging kann verschiedene Stufen der Einmischung bedeuten. Von der subtilen Beeinflussung bis hin zu finanziellen Vorteilen. Um welche Themen sich die Merkel-Truppe kümmern will, darüber will im Kanzleramt noch niemand reden.
Noch ist man bei der Auswahl möglicher Projekte. Die können auch klein und einfach sein: Wo zum Beispiel stellt man im Krankenhaus Hygienespender mit Desinfektionsmittel auf? Früher hingen die in der Gästetoilette. Heute stehen sie oft schon in der Eingangshalle. Braucht man da noch ein Stoppschild, um auf sie hinzuweisen?
Oder die wichtige Frage: Wie macht man Informationsblätter verständlicher? Durch eine einfache Sprache, andere Symbole oder schlicht durch eine andere Farbe? „Einen weiteren, bisher nicht diskutierten großen Nutzen der Verhaltensökonomik sehe ich bei dem Design ökonomischer Spielregeln“, sagt Ökonom Ockenfels. So ließe sich Nudging bei Gesetzen anwenden, die dabei helfen sollen, freiwillig das Klima zu schützen oder gieriges Verhalten zu disziplinieren.
Dass die neuen Psychologen und Verhaltensökonomen die Kanzlerin direkt beraten, ist nicht geplant, heißt es. 400 Leute hatten sich auf die wenigen Stellen beworben. Nun sind die drei Kandidaten dem Vernehmen nach gefunden. Es soll sich um zwei Frauen und einen Mann handeln, alle kommen von Universitäten.
Bei einer so kleinen Mannschaft ist die Zahl möglicher Projekte überschaubar. Sunstein warb bei einem Besuch im Januar im Bundeskanzleramt noch einmal nachdrücklich für die Verhaltensökonomie. „Wichtig ist es, die Prinzipien von Transparenz und Neutralität einzuhalten“, sagte er. „Dann kann Nudging ein sehr erfolgreiches Instrument sein, um das Glück der Bürger zu steigern.“
Mit freundlicher Genehmigung der Welt.
Dams, J et al. (2015). Merkel will die Deutschen durch Nudging erziehen. Die Welt am 12.03.2015.