Vereinbarkeit Beruf und Familie

Matthias Daum – Was Familien wirklich helfen würde



Frauen, wehrt euch! Fordert Tagesschulen! Doppelt zu verdienen muss sich wieder lohnen!


Ein Gespräch mit Remo Largo, dem berühmtesten Kinderarzt der Schweiz, und Monika Bütler, der bekanntesten Ökonomin des Landes

DIE ZEIT: Frau Bütler, Herr Largo, was würden Sie einem jungen, vollberufstätigen Schweizer Paar raten: Soll es Kinder kriegen?

Monika Bütler: Ja, sicher. Wenn es will.

Remo Largo: Eigentlich wollen das alle jungen Leute. Bei den 15- und 20-Jährigen sind es über 80 Prozent, das zeigen Umfragen. Zwischen 20 und 40 realisieren sie jedoch, Kinder haben ist weit schwieriger als gedacht. So schwierig, dass manche den Zeitpunkt gar verpassen.

Bütler: Ich wollte lange Zeit keine Kinder. Weil für mich klar schien: Entweder man hat einen interessanten Beruf oder Kinder. Dieses Entscheiden-müssen empfand ich als extrem unangenehm. Und das geht vielen anderen Frauen auch so.

ZEIT: Ist das typisch für die Schweiz?

Largo: Nein, das ist genauso in Deutschland, Österreich und Italien. Aber in den skandinavischen Ländern ist es viel besser.

ZEIT: Haben diese Länder andere Bilder von Elternschaft und Karriere?

Bütler: Vor allem andere Vorbilder. Heute ist es in der Schweiz vielleicht etwas besser. Aber unter meinen erfolgreichen Kolleginnen, die zehn Jahre älter sind als ich, hatte kaum eine Kinder. Es hat ein paar Professorinnen und Chefinnen gebraucht, die zeigten, auch eine Frau kann beides haben. Mein schönstes Erlebnis war, als wir schon einen Sohn hatten und eine Kollegin zu mir sagte: „Also wenn ihr das könnt, dann können wir das auch.“

Largo: Wenn wir zu den Skandinaviern aufschließen wollen, müssten wir einen zwei bis dreimal höheren Anteil des BIP für Familien und Kinder aufwenden als bisher. Das sind Milliardenbeträge. Deshalb sollten wir erst einmal darüber diskutieren: Wie wollen wir eigentlich leben? Was wären gute Lebensbedingungen für Familien und Kinder? Und uns dann fragen: Wollen wir das bezahlen, und wie müssen wir das vorhandene Geld umverteilen?

ZEIT: Die Initiative der CVP, über die wir am 8. März abstimmen, schlägt eine solchen Milliardeninvestition vor: Die Kinderzulagen sollen nicht mehr versteuert werden.

Largo: Die Politiker haben es sicherlich gut gemeint. Aber diese Form der Unterstützung funktioniert nicht. Das sehen wir in Deutschland. Dort hat man die Beiträge an die Familien seit den 1970er Jahren um 1.400 Prozent erhöht – genützt hat es nichts.

ZEIT: Was würde den Familien nützen?

Largo: Was den Eltern wirklich hilft, sind: Elternzeit, kostengünstige, qualitativ gute Krippen und Ganztagesschulen – sowie eine Wirtschaft, die Verständnis für Familie zeigt. Die Krippen sollten vom Staat bezahlt werden. Sie gehören genauso zum Bildungswesen wie die Schulen. Krippen sind nicht nur dazu da, Kinder zu beaufsichtigen, während ihre Eltern arbeiten. Wir wissen aus der Frühförderungsforschung, dass sich manche Kinder in Krippen besser entwickeln. Kinder brauchen andere Kinder und eine Umgebung, die ihre Entwicklung anregt. Das bekommen sie leider in der Kleinfamilie sehr oft nicht.

Bütler: Wer am meisten von der Frühförderung profitiert, sind Kinder aus niederen sozialen Schichten, die zu Hause die intellektuellen Herausforderungen nicht kriegen. Aber in der Schweiz sind nicht die Kinder der Putzfrauen in den Krippen, sondern unsere aus dem Mittelstand. Die Schweiz gibt sehr viel Geld aus für die frühkindliche Betreuung des mittleren und oberen Mittelstands. Aber zu wenig für jene, die davon am meisten profitieren würden.

ZEIT: Wieso schicken Putzfrauen ihre Kinder nicht in die Krippe?

Bütler: Einige wollen nicht, manchmal aus kulturellen Gründen. Viele kommen allerdings schon gar nicht an einen Krippenplatz heran. Die günstigen Plätze sind nämlich rationiert. Und wer bekommt die? Genau, der Mittelstand. Eltern also, die wissen, wie sie an einen subventionierten Platz kommen. Und die sich so aufstellen können, dass sie gerade noch einen subventionierten Platz kriegen. Und der fehlt dann dem Putzfrauenkind.

ZEIT: Könnte man das lösen?

Bütler: In Luzern erhalten Eltern Betreuungsgutscheine, die vom Arbeitspensum und dem Einkommen abhängen. Nach dem Systemwechsel hatten plötzlich viel mehr Kinder von Eltern mit geringem Einkommen einen Krippenplatz. Wir haben das in einer Studie angeschaut. Für mich ist dies die ideale Art des Ausbaus. Er kostet, ja, hilft aber den Ärmeren am meisten.

ZEIT: Wieso werden Krippendiskussionen hierzulande eigentlich immer zu ideologischen Grundsatzdebatten?

Largo: Wir hängen immer noch einem Familienbild nach, das längst nicht mehr gelebt wird. Eigentlich sind wir ein pragmatisches Land, aber in einigen Bereichen wollen wir einfach nicht hinschauen. Viele Kinder brauchen Krippen für eine gute persönliche Entwicklung.

Bütler: Ich bin aber sehr skeptisch, die Familien zu zwingen, die Kinder in die Krippe zu schicken. Besser wäre es, den Kindergarten zu stärken: durch einen etwas früheren Beginn wie im Tessin und mehr Förderung.

Largo: Die ersten fünf Lebensjahre sind entscheidend, vor allem für die sprachliche und soziale Entwicklung. Die Kinder brauchen andere Kinder und Bezugspersonen und altersgerechte Erfahrungen. Bei uns sitzen sehr viele Kinder allein in der Wohnung, die Eltern arbeiten, vielleicht noch Schicht. Das ist die Folge einer verfehlten Familienpolitik.

Bütler: Es schaut hier halt jeder für sich. Wenn die Parteien einen Krippenplatz für jedes Kind fordern, geht es nicht einmal den Linken um die benachteiligten Kinder, sondern um den eigenen Nachwuchs. Aber ein berufstätiges Paar aus dem Mittelstand hat ganz andere Bedürfnisse als eine Migrantenfamilie.

ZEIT: Es ist also wie immer: Jene, die am lautesten schreien, werden gehört?

Bütler: Mit kleinen Kindern ist das wirkliche Problem nicht die Vereinbarkeit von Beruf und Familie, die den Mittelstand beschäftigt. Das ist irgendwie lösbar. Das dringendere Problem ist die Integration. Die Krippenzeit ist eine relative kurze Zeit. Die Schulzeit dauert viel länger – und ist auch für jene, die laut nach mehr staatlicher Unterstützung der Krippen schreien, viel schwieriger zu organisieren.

Largo: Bei den Krippen klagen zwar viele, wie teuer das sei, das ganze Einkommen der Frau gehe drauf …

Bütler: … das ist auch schnell weg …

Largo: … aber diese Zeit geht vorbei. Das sind drei Jahre. Mit dem Kindergarten beginnt die wirkliche Not des Mittelstands.

ZEIT: Sie, Herr Largo, sagten vor vier Jahren beinahe prophetisch, bald werde man in der Schweiz sagen: „Ihr Frauen müsst jetzt arbeiten, weil wir uns Zuwanderung politisch nicht mehr leisten können.“

Largo: Die nächsten Jahre werden entscheidend sein. Die Wirtschaft braucht die Frauen als Arbeitskräfte. Nun müssen die Frauen ihre Forderungen für eine kind- und familiengerechte Gesellschaft stellen. Leider halten sie sich immer noch vornehm zurück.

ZEIT: Frau Bütler, Sie nicken.

Bütler: Ich muss leider nicken.

Largo: Für viele Frauen ist die Politik immer noch ein schmuddeliges Geschäft. Dabei geht es doch um ihre ureigenen Interessen: Familie, Kinder, Vereinbarkeit von Familie und Arbeit. Von den etablierten Parteien, die von Männern dominiert werden, erwarte ich leider gar nichts. Die Frauen müssen zusammenstehen, vielleicht mit Ihnen, Frau Bütler, ich würde Sie da gern unterstützen.

Bütler: Ein wichtiger Grund, weshalb wir keine Tagesschulen haben und weshalb der Kindergarten zu spät beginnt und zu wenig fördert, ist: Die Frauen wollen sich nicht wehren, sie versuchen sich durchzumauscheln. Das erschüttert mich immer wieder. Bei vielen meiner Studentinnen ist die erste Frage: Ja, kann ich dann auch Teilzeit arbeiten? Wir haben an der Uni gelegentlich Abendsitzungen, die lange im Voraus bekannt sind und die nun wirklich organisierbar sind. Aber ausgerechnet die Frauen fragen: Könnten wir die Sitzung nicht tagsüber machen?

ZEIT: Wieso?

Bütler: Weil sie zu Hause die Verantwortung nicht abgeben wollen. Da ist irgendwo ein Knopf.

Largo: Historisch ist dieser Knopf erklärbar. Man hat in der Schweiz die Frauen entmündigt…

ZEIT: … bis 1971 durften sie nicht abstimmen, und erst mit dem neuen Eherecht von 1985 waren Frau und Mann gleichgestellt.

Largo: Diese vornehme Zurückhaltung der Frauen ist nicht mehr zeitgemäß. Der Frauenanteil unter den Kinderärzten, die wir ausbilden, liegt inzwischen bei 80 Prozent. Unter den Pädagogen ist er etwas gleich hoch. Das System wird mit Sicherheit kollabieren in den nächsten zehn Jahren, wenn die Arbeitsbedingungen für die Frauen …

Bütler: … und Männer …

Largo: … nicht besser werden.

ZEIT: Weshalb?

Largo: Wir bilden genauso viele Kinderärzte aus wie früher. Damals waren es Männer, die 100 Prozent gearbeitet hatten. Heute arbeiten die Frauen durchschnittlich 50 Prozent. In den Schulen haben Sie dasselbe Phänomen. Geschätzte 55.000 Akademikerinnen sind nicht berufstätig. Das kann nicht gut gehen.

Bütler: In den Schulen kommt hinzu, dass die Lehrer und Lehrerinnen selber Teil des Problems sind. Dank der heutigen Schulstruktur mit den langen Mittagspausen können sie sehr einfach ihre eigenen Kinder betreuen. Dass sie dies damit 99 Prozent der anderen Eltern fast verunmöglichen, halten sie nicht für ihr Problem.

ZEIT: Hat diese bewahrende Haltung nicht auch damit zu tun, dass in der Schweiz das Private nach wie vor als privat gilt – und nicht als politisch?

Largo: Das ist eine Schutzbehauptung. Manche Kinder sind nicht gut versorgt, weder in konservativen noch in aufgeschlossenen Kreisen. Ich machte mal eine Untersuchung am Zürichberg: Wie viele Kinder sitzen über Mittag und nach der Schule allein zu Hause? Es sind über 50 Prozent.

ZEIT: In welchem Alter?

Largo: Mittelstufe und Oberstufe. Da ist es doch einfach scheinheilig zu sagen: „Wir wollen unsere Kinder den ganzen Tag selbst betreuen.“ Die Kinder sitzen vor Fernseher oder Handy und essen Chips.

Bütler: Ich finde es eigentlich schön und richtig, wenn wir jeden nach seiner Vorstellung leben lassen. Aber indem wir alle ins gleiche Modell zwingen und zum Beispiel keine Tagesschulen anbieten, mischen wir uns ja massiv ein. Wenn das Private tatsächlich privat wäre, dann müssten auch jene, die nicht das Standardmodell leben, dies tun können. Was heute passiert: Wer sich eine private Tagesschule leisten kann, der tut das. Und genau das wollen wir eigentlich nicht. Diese Segregation der Kinder schadet nämlich allen.

ZEIT: Ändern müsste das der Staat?

Bütler: Wir sind der Staat. Aber uns kommt immer wieder unser Perfektionismus in die Quere. Meine Kinder gingen in Australien in eine Tagesschule. Die Schule kostet dort halb so viel wie in der Schweiz. Schulbeginn ist um 8.30 Uhr, Schul-ende um 15 Uhr. Über Mittag essen die Kinder mit ihren Lehrern im Schulzimmer ein Sandwich. Und dennoch ist die Qualität der Ausbildung super, mit ähnlichen oder besseren Ergebnissen in den Pisa-FAMILIE Tests wie die Schweiz. Uns geht diese Flexibilität ab! Wir könnten mit dem Geld, das wir für die Schule ausgeben, viel mehr erreichen.

Largo: Das Seminar Unterstrass in Zürich hat halb so hohe Kosten wie eine öffentliche Schule. Es ist also möglich. Und ich wiederhole mich: Wenn nun die Frauen mehr arbeiten sollen, muss sie der Staat besser unterstützen.

Bütler: Dazu gehört aber auch die übermäßige Besteuerung des Zweiteinkommens in der Schweiz. Sie verhindert, dass ausgerechnet die gut ausgebildeten Frauen mehr arbeiten.

ZEIT: Frau Bütler, das fordern Sie nun aber seit Jahren. Passiert ist trotzdem nicht viel.

Bütler: (lacht) Ich schwanke zwischen völliger Enttäuschung und: Jetzt probiere ich es doch nochmals. Gewisse Fortschritte gibt es schon. Aber ein wichtiger Punkt ist: Viele Probleme beschäftigen einen persönlich über lange Zeit. Wer arm ist, kämpft oft lang damit. Wer denkt, zu viele Steuern zahlen zu müssen, tut dies lange. Die Krippen- und Schulzeit hingegen ist schnell vorbei …

Largo: … und dann interessiert man sich nicht mehr dafür. Wenn sich die Frauen, die nun mehr arbeiten sollen, jedoch von der Wirtschaft ausnützen lassen, dann leiden sie selbst, ihre Familie und vor allem die Kinder darunter.

Bütler: Herr Largo, die Wirtschaft wird zu Unrecht dämonisiert, ihre Arbeitsbedingungen sind oft flexibler als die Betreuungsangebote des Staates. Einige Firmen, die ich gut kenne, kommen Mitarbeitern mit Familie sehr entgegen. Aber wenn keine Ansprüche kommen, dann passiert halt nichts.

Largo: Wieso sollen sich die Frauen nicht die alten Athenerinnen und Spartanerinnen zum Vorbild nehmen?

ZEIT: Sie fordern einen Sexstreik?

Largo: Nein, einen Arbeitsstreik. Wir arbeiten nicht mehr, bis ihr die Rahmenbedingungen für die Familien verbessert habt. Die Frauen müssen verlangen, dass ihre Steuererträge mehrheitlich zur Unterstützung der Familien eingesetzt werden. Ich befürchte, dass sie sich vereinnahmen lassen und sich nichts ändert.

Bütler: Kürzlich hatte ich den 20-jährigen Sohn einer Freundin hier. Im Gespräch mit dem engagierten und ehrgeizigen jungen Mann zeigten sich wahnsinnige Vorurteile gegen weibliche Chefs. Und ich dachte: Jesses Gott, wenn das wirklich die junge Generation ist, dann ändert sich sicher nichts! Auch heute noch wollen viele Männer die Verantwortung in der Familie gar nicht übernehmen. Beide Seiten haben sich in ihre Situation „eingemöttelt“. Dabei erhalten Männer, die das trotzdem schaffen, sehr viel gesellschaftlichen Applaus. Mein Mann, der 60 Prozent arbeitet und Mittwoch und Freitag zu Hause bleibt, kriegt ständig Komplimente.

ZEIT: Also, was tun?

Bütler: Wir sollten die Leute unterschiedlich leben lassen. Es geht mich doch überhaupt nichts an, wie jemand leben will: allein, in einer klassischen Familie, in einem Patchwork Haushalt. Aber die Rahmenbedingungen müssten dies auch zulassen. Alle Vorschläge, die wir vorher diskutiert haben, helfen dabei.

ZEIT: Die Schweizer geben sich also liberaler, als sie tatsächlich sind?

Largo: Ja, sicher.

Bütler: Das sind Welten.


Mit freundlicher Genehmigung der Zeit.

Daum, M. (2015). Was Familien wirklich helfen würde. Die Zeit am 23.02.2015.