Milizionäre vor!
Wieso Selbsterfüllung nicht alles ist.
„The ME ME ME Generation“ . So lautete die Schlagzeile auf der Titelseite des Magazins Time . Ja, das Ego-Prinzip ist auf dem Vormarsch, das zeigt auch eine regelmäßig durchgeführte internationale Studie. Seit Jahrzehnten wurde die Frage: „Was ist Ihnen am wichtigsten in Ihrem Leben?“, mit dem gleichen Dreiklang beantwortet: die Familie, die Gesundheit, der Beruf. Bis vor zwei Jahren, als zum ersten Mal die „Selbsterfüllung“ an erster Stelle genannt wurde.
Diese Entwicklung bedroht ein bisher selbstverständliches Element unseres Gemeinwesen: das Milizsystem.
In der Publikation Ideen für die Schweiz stellt Patrik Schellenbauer, Projektleiter beim Thinktank Avenir Suisse, nüchtern fest: „Insgesamt wird in der Schweiz mehr Zeit mit unbezahlter Arbeit verbracht als mit bezahlter.“ Unbezahlt arbeiten die Schweizer aber immer weniger: Leistete 1997 noch jeder zweite Freiwilligenarbeit, waren es 2010 nur noch 37 Prozent.
Bei Freiwilligenarbeit denken wir zuerst einmal an Engagements in Vereinen, Gemeinden, Stiftungen oder in der lokalen Feuerwehr. Den Löwenanteil leisten aber Frauen: mit Hausarbeit oder Kinderbetreuung. Diese „informelle Freiwilligenarbeit“ summiert sich zu einem sagenhaften Betrag von rund 250 Milliarden Franken. Ein Wert, der kaum in einer offiziellen Statistik erscheint, der jedoch Ausdruck unseres Staatsverständnisses und Teil unseres schweizerischen Selbstbildes ist.
Die unbezahlte Hausarbeit wird aber immer häufiger ausgelagert. Zum Glück. Denn Frauen lassen sich nicht mehr auf Kinder, Kirche, Küche reduzieren und streben vermehrt eine berufliche Karriere an. Damit bleibt aber weniger Zeit, um neben Job und Haushaltarbeit einer klassischen Miliztätigkeit nachzugehen.
Allerdings ist es nicht so, dass jene Schweizer, die viel Zeit haben, am meisten Milizarbeit leisten. In der Realität ist es genau umgekehrt. Einige der viel beschäftigten Engagierten versammelten sich Anfang 2014 zu einer Debatte über das schwindende Interesse am Milizsystem, zu der Avenir Suisse und die Schweizerische Management Gesellschaft eingeladen hatten. Helmut Maucher, Ehrenpräsidenten von Nestlé, betonte, dass Führungspersonen einen breiten Horizont brauchen: „Wer sich als Führungskraft nicht für allgemeine Fragen einsetzt, wird auch schlechter führen.“
Am meisten überzeugte mich Ulrich Bremi. Der überzeugte Milizionär, Ex-Unternehmer, Ex-Verwaltungsratspräsident von SwissRe und Alt-Nationalrat zeigte sich besorgt, dass im Ständerat gar keine Milizpolitiker mehr anzutreffen seien und im Nationalrat gerade noch 13 Prozent der Parlamentarier weniger als 30 Prozent ihrer gesamten Arbeitszeit der Politik widmeten.
Ein Berufsparlament widerspricht fundamental unserem Demokratie-Verständnis und entfernt sich mehr und mehr von der wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Realität. Darum mahnte Bremi: „Interessiert euch! Und überlasst die Politik nicht jenen, die noch nie Erfahrungen in der privaten Wirtschaft gesammelt haben.“
Was es vor allem braucht, um dem Milizgedanken neues Leben einzuhauchen, ist die gesellschaftliche Anerkennung des freiwilligen Einsatzes für die Allgemeinheit. Auch die „ME ME ME Generation“ kann nicht allein von ihrer narzisstischen Selbstbespiegelung leben. Schon früh müssen wir deshalb unseren Kindern die Lust am Geben vermitteln. Nicht nur zur Rettung des Milizsystems, sondern auch, weil es einfach Spaß macht und befriedigend ist, sich für andere einzusetzen.