Niemand wagt es, genau hinzusehen
Wer sich für eine bessere Gesellschaft engagiert, der macht sich angreifbar. Als Philanthropin nimmt Carolina Müller-Möhl dieses Risiko bewusst in Kauf.
Sie sind Unternehmerin und engagieren sich als Philanthropin stark in Ihrer Müller-Möhl Foundation. Weshalb?
Carolina Müller-Möhl: Ich bin ein Menschenfreund. Ganz im Sinn und Geist der antiken Philosophen nenne ich mich Philanthropin. Ich engagiere mich für die Menschen und die Gesellschaft, weil ich an die Selbstverantwortung jeder Bürgerin und jedes Bürgers glaube. Es geht um die Frage, ob der Staat für mich die Verantwortung übernehmen muss oder ich für den Staat.
Wie wurden Sie zur Philanthropin? Gab es einen Schlüsselmoment?
Ich bin vom Guten im Menschen überzeugt; auch davon, dass das Umfeld, in dem der Mensch aufwächst – die Familie, der Staat, die Institution –, essenziell für sein Leben sind. Ich habe das Glück, dass ich in einem glücklichen Elternhaus aufgewachsen bin und eine hervorragende Ausbildung geniessen durfte, die sich an Hand, Kopf und Herz richtete. Bei uns Zuhause stand der Mensch im Zentrum. Meine Mutter war Psychologin, mein Vater Psychiater. Beide waren im Milizsystem aktiv und leisteten Freiwilligenarbeit. Philanthropie war Teil meiner Kindheit und Jugend. Ich war Klassen- und Schulsprecherin, an der Hochschule engagierte ich mich für Studentenvereinigungen. Diese Erfahrungen, meine Ausbildung, mein beruflicher Werdegang und mein Netzwerk stelle ich nun in den Dienst meiner Stiftung und meines philanthropischen Engagements.
Was bringt Ihnen Philanthropie?
Mein philanthropisches Engagement macht mich glücklich.
Sie fokussieren sich auf drei Themen: Bildung, Vereinbarkeit von Beruf und Familie, Standortförderung. Wie kam es dazu?
Alle drei Themen sind wichtig für die Schweiz. Alle drei Themen interessieren mich und in allen drei Themen gibt es noch viel zu bewegen.
Sie sagen «etwas bewegen»: Wollen Sie die Welt verändern?
Das mag sich jetzt etwas idealistisch anhören, doch meine Ambition ist es schon, etwas zu verändern in der Welt, respektive in der Schweiz. Denn die Müller-Möhl Foundation ist nur in der Schweiz tätig. Deshalb ist eines unserer Themen die Förderung des Standorts Schweiz.
Wieso ist Ihnen die Bildung derart wichtig?
Bildung ist die Basis für ein selbstbestimmtes Leben und bleibt ein Leben lang wichtig. Oder wie es John F. Kennedy einmal sagte: «Es gibt nur eins, was auf die Dauer teurer ist als Bildung, keine Bildung.» Das gilt ganz besonders für die Schweiz, ein Land ohne natürliche Ressourcen, wie Gold und Erdöl oder Zugang zum Meer.
Gibt es nicht schon genügend Initiativen vom Staat und von Privaten, die dasselbe Ziel verfolgen?
Nein, es gibt Bereiche, die vom Staat und der Privatwirtschaft nicht genügend Aufmerksamkeit erhalten. Zum Beispiel die frühkindliche Bildung. Lediglich 0,02 Prozent der Fördergelder fliesst in die frühkindliche Bildung. Und dies, obwohl wir aus der Wissenschaft längst wissen, dass dieses Alter (0 bis 4 Jahre, die Red.) für die Entwicklung eines Menschen zentral ist.
Womit wir bei Ihrem zweiten Steckenpferd sind, der Vereinbarkeit von Beruf und Familie.
Ja, denn sie hat eine grosse staats-und wirtschaftspolitische Bedeutung für unser Land. Angesichts unserer Demographie, des Fachkräftemangels und der digitalen Transformation unserer Gesellschaft stellen sich ein paar grundlegende Fragen: Wie sollen Frauen und Männer in jeder Lebensphase bestmöglich im Arbeitsmarkt integriert bleiben? Wie soll das Recht auf Arbeit und Familie für Frauen wie für Männer umgesetzt werden? Dazu braucht es optimale Rahmenbedingungen für die Familie, für Männer und Frauen sowie für die Unternehmen. Es braucht Kitas und Ganztagesschulen. So lassen sich Beruf und Familie besser vereinbaren, wovon letztlich der Wirtschaftsstandort Schweiz profitiert. Deshalb greifen die drei Themen meiner philanthropischen Arbeit ineinander.
Können Sie das konkretisieren?
Wenn arbeitstätige Mütter und Väter in ihrer Nähe keine Krippen, Kindertagesstätten und Ganztagesschulen haben, werden die Kinder häufig sich selber überlassen. Es fehlt die Betreuung. Diese Dunkelziffer ist – für ein Land wie die Schweiz – erschreckend hoch, doch niemand wagt es, genau hinzusehen.
Im Gegensatz zu den USA sind die Philanthropen und ihr Engagement in der Schweiz kaum bekannt. Sie sind eine der wenigen Ausnahmen. Weshalb?
Das ist wohl eine typisch schweizerische Eigenart, die ich bei vielen hiesigen Philanthropen beobachte. Man engagiert sich stark, arbeitet professionell, spricht aber nicht darüber.
Bedauern Sie diese Zurückhaltung?
Für mich gibt es kein richtig oder falsch. Jeder Philanthrop, jede Philanthropin muss für sich entscheiden, was seiner und ihrer Persönlichkeit entspricht. Ich habe mich mit der Müller-Möhl Foundation für den offenen Weg entschieden. Wir zeigen, was wir machen und kommunizieren öffentlich unsere Ziele.
Wünschen Sie sich, dass mehr Philanthropen Ihren Weg der offenen Kommunikation einschlagen würden?
Ja, das würde ich mir sehr wünschen. Gerade im Hinblick auf mein Ziel, die Philanthropie zu fördern, braucht es Vorbilder, Persönlichkeiten auch aus grossen Stiftungen und Familien, die inspirieren. Ich stelle fest, dass es vermehrt Plattformen gibt, auf denen sich Philanthropen treffen und austauschen. Vieles ist in Bewegung, was auf eine allmähliche Öffnung hinweist. Aber die Zurückhaltung ist immer noch weit verbreitet.
Öffnet man sich, so wird man angreifbar.
Das stimmt. Mit unseren Studien und unserem Engagement zur frühkindlichen Förderung und Entwicklung beispielsweise werden wir Teil des gesellschaftspolitischen Diskurses. Wir exponieren uns und werden dafür auch kritisiert. Die Debatte und die Auseinandersetzung begrüsse ich sehr. Das zwingt auch die modernen Stiftungen, sich zu erklären. Allerdings muss der Diskurs auf einem sachlichen, argumentativen Niveau stattfinden. Wenn jedoch Polemik und Halbwissen dominieren und Stiftungen per se schlecht geredet werden, schadet dies allen Beteiligten. Letztlich engagieren sich die Philanthropen ehrenamtlich und leidenschaftlich. Die allermeisten Stiftungen sind sehr professionell aufgestellt. Deshalb bedaure ich solche Pauschalverurteilungen.
Die Schweiz braucht eben doch mehr prominente Persönlichkeiten, die öffentlich als Philanthropen auftreten wie Bill und Melinda Gates, Warren Buffett, George Soros oder Mark Zuckerberg.
Wahrscheinlich schon, doch sind wir in der Schweiz noch nicht ganz so weit. Die Stiftungen und Familien verhalten sich nach wie vor sehr diskret. Und man muss dann in der Lage sein, Kritik auszuhalten. Für mich waren solche Situationen immer Ansporn, erst recht weiterzumachen und für meine Überzeugungen und Projekte einzustehen. Es gibt in der Schweiz ein paar Philanthropen wie Hans-Jörg Wyss, Ernesto Bertarelli oder Ellen Ringier, die den offenen Weg begehen.
Was haben Sie von der weltgrössten Stiftung, der Gates Foundation, gelernt?
Solche Stiftungen sind Vorbilder, weil sie hochprofessionell organisiert sind und sehr zielorientiert vorgehen. Auch bei uns steht Professionalität an erster Stelle. Wenn wir eine Idee haben, schauen wir zuerst, wer sich bereits mit diesem Thema befasst, nehmen Kontakt auf und tauschen uns aus. Wenn wir ein Projekt aufgleisen, basiert dieses auf wissenschaftlichen Grundlagen, die wir zusammen mit Universitäten oder anderen Bildungsinstitutionen erarbeiten. Dann erstellen wir, wie das Unternehmen auch tun, einen Businessplan mit Zielen und Massnahmen.
Ist dieser Ansatz neu in der Schweiz?
Nein, es gibt zahlreiche Stiftungen, die ebenfalls diesen Ansatz verfolgen.
Wie sähe ein ideales Zusammenwirken von Politik, Wirtschaft und Philanthropie aus?
Es müsste allgemein anerkannt sein, dass die Stiftungen ebenso wie der Staat, die Wirtschaft, die Wissenschaft oder die Kirchen Akteure sind, die einen positiven Beitrag für eine bessere Gesellschaft leisten wollen. Es gibt Megathemen wie Migration oder Umwelt, die man gemeinsam lösen muss. Deshalb ist in meinen Augen die Zusammenarbeit so wichtig. Mich würde es sehr freuen, wenn beispielsweise eine parlamentarische Gruppe oder Kommission, die sich mit dem Thema Vereinbarkeit von Beruf und Familie befasst, auch Stiftungen oder Philanthropen auf dem Radar hätte und sie zu einem Gespräch einladen würde. Stiftungen haben den Vorteil, dass sie viel agiler sind und innovativer arbeiten können, als dies in der Politik möglich ist. Sie können auch einmal eine Idee ausprobieren, was in der Politik schwerer machbar ist. Auch die Stiftungen untereinander müssen noch stärker zusammenarbeiten.
Wie möchten Sie als Philanthropin in Erinnerung bleiben?
Das interessiert mich nicht. Ich arbeite weder an meinem Denkmal noch an meinem Grabstein. Ich habe zudem den Entscheid gefällt, dass die Müller-Möhl Foundation an meine Lebenszeit gekoppelt ist. Meine Nachkommen müssen selber entscheiden, ob und wie sie philanthropisch tätig sein möchten und zu welchen Themen sie einen Bezug haben. Das ist ihre ganz persönliche, individuelle Entscheidung.
Gespräch: Pascal Ihle