Reden ist Gold



Für die Entwicklung von Kindern ist es entscheidend, dass die Eltern von Geburt an mit ihnen sprechen. Früher Spracherwerb fördert die kognitive Entwicklung – und den Erfolg im Leben.

Wer seinem Baby einen Gefallen tun will, redet mit ihm. Wenn er die Windeln wechselt, Brei füttert oder es zu Bett bringt: reden, reden, reden. Auch wenn das winzige Wesen kein einziges Wort versteht. Wie viele Wörter ein Kleinkind hört, trägt entscheidend zu seiner Entwicklung bei. Ob es später in Schule und Beruf Erfolg haben wird, hat auch damit zu tun, dass seine Eltern genügend mit ihm reden, während es noch kaum mehr kann als schreien, schlafen und Milch trinken. Denn die Kleinen lernen nicht nur Wortschatz und Grammatik, sondern ihre kognitive Entwicklung schreitet voran, wenn sie Wörter hören.

Jüngst veröffentlichten die amerikanischen Psychologinnen Athena Vouloumanos und Sandra Waxman eine Studie, die aufzeigt, welchen Einfluss es auf Kinder in ihrem ersten Lebensjahr hat, Sprache zu hören. «Schon mit drei Monaten nutzen sie Sprache zum Kategorisieren, obwohl sie noch kein einziges Wort kennen», sagt Vouloumanos. Die Forscherinnen zeigten den Säuglingen mehrere Dinosaurier und sagten dazu jeweils das gleiche Wort, oder sie liessen einen Laut erklingen. Zuletzt führten sie entweder einen weiteren Dinosaurier oder einen Fisch vor.

Hatten die Kinder zuvor ein Wort gehört, als sie den Dinosaurier sahen, verwirrte sie der Fisch. Durch die Sprache hatten sie die Kategorie «Dinosaurier» gebildet, obwohl sie das Wort nicht verstanden. Schubladen wie diese brauchen wir, um etwas über die Welt zu lernen, denn mit ihrer Hilfe stellen wir Verknüpfungen her, nehmen Gemeinsamkeiten und Unterschiede wahr oder ziehen Schlussfolgerungen. Für Kinder ist es ein riesiger Fortschritt, allmählich ein System von Kategorien aufzubauen. Dabei unterstützt sie die Sprache, nicht aber ein Ton: Hörten die Babys nur den Klang, bildeten sie keine Dinosaurier-Kategorie und nahmen den Fisch ungerührt zur Kenntnis.

Wenig später, mit sechs Monaten, begreifen Kinder, dass Sprache der Informationsvermittlung dient. Die Forscher liessen sie beobachten, wie eine Person mehrmals den gleichen Gegenstand ergriff. Dann führten sie den Kleinen eine Situation vor, in der dieses Lieblingsstück für die Person ausser Reichweite lag. Die Kinder rechneten nun damit, dass ein Zweiter ihr den Gegenstand gebe, wenn sie mit ihm sprach. Tat er das nicht, reagierten die Kinder irritiert. Hustete die erste Person hingegen bloss, wunderten sich die Kinder nicht, wenn der Zweite untätig blieb. Denn ein Geräusch, das wissen die Kleinen bereits, ist keine Bitte. Reden aber kann einen anderen zum Handeln bewegen.


Ermutigen statt tadeln

Weil Eltern, die wirtschaftlich und sozial schlechtergestellt sind, um solche Zusammenhänge oft nicht wissen und wenig mit ihren Kinder sprechen, tut sich bereits im Alter von drei Jahren eine gewaltige Lücke auf: Kinder aus wohlhabenden und bildungsnahen Familien haben bis dahin 30 Millionen mehr Wörter gehört als ihre Altersgenossen aus ärmeren Familien. Zu diesem Ergebnis kommt eine vielzitierte Studie von Betty Hart und Todd R. Risley aus dem Jahr 1995, die seitdem in zahlreichen Untersuchungen bestätigt wurde. Da die Konsequenzen so gravierend sind, versuchen diverse Initiativen unter dem Schlagwort «Word Gap», den Spracherwerb von armen Kindern in den USA zu fördern.

«Einen Word Gap gibt es auch bei uns», sagt Urs Moser, Leiter des Instituts für Bildungsevaluation an der Universität Zürich. «Allerdings schliesst man ihn nicht, indem man den Kindern Hunderte von Wörter präsentiert.» Denn die Kleinen hätten von dem Redeschwall nur etwas, wenn sie die Wörter in ihrem natürlichen Kontext hörten. Ein Paukprogramm für Vokabeln nützt ihnen hingegen nichts. Ebenso wenig Sinn ergibt es, sie vor den Fernseher zu setzen. Selbst ihren Eltern beim Gespräch über Platon zu lauschen, hilft ihnen nicht. «Kinder lernen Sprache, wenn man mit ihnen zusammen etwas macht und dabei gemeinsam die Aufmerksamkeit auf etwas richtet», sagt Christine Czinglar, Sprachwissenschafterin an der Universität Kassel. Wenn man ihnen erklärt, dass man ihnen jetzt eine Mütze aufsetzen wird, mit ihnen über die Auslagen beim Einkaufen redet, ihrem Blick folgt und ihnen sagt, was sie da eigentlich gerade betrachten.

Als die amerikanischen Forscher Hart und Risley Anfang der 1990er Jahre ihr Projekt starteten, wollten sie wissen, warum Kinder aus armen Familien schon in so jungen Jahren mit ihren Altersgenossen nicht mithielten. War es die Ernährung? Zu viel Fernsehen? Schlechter Schlaf? Sie beobachteten 42 Familien mit kleinen Kindern über einen Zeitraum von drei Jahren. Am Schluss, als die Kinder dreijährig waren, beherrschten die einen 1100 Wörter, die anderen nur 525. Die höher qualifizierten Eltern hatten nicht nur mehr mit ihren Söhnen und Töchtern gesprochen als die Arbeiter und die Sozialhilfeempfänger, sondern auch anders: Sie lobten und ermunterten sie vor allem, währen die schlechtergestellten Eltern sie tadelten und entmutigten. Nicht nur viel zu reden, ist also wichtig, sondern auch, die richtigen Worte zu finden. Denn korrigieren lässt sich ein Kind auch ohne Gemecker: «Du willst den Ball?», kommt ohne Tadel aus, wenn das Kind nach «die Ball» verlangt hat.

Doch weder die Menge der Wörter noch die positive Ermunterung reichen aus. «Ob die Eltern einen differenzierten Wortschatz verwenden und komplexe Sätze bilden, hat entscheidenden Einfluss», sagt Catherine Walter-Laager, Privatdozentin für Pädagogik an der Universität Oldenburg. Sie hat an einer Studie der Universität Freiburg mitgearbeitet, die einen «Word Gap» bei Schweizer Kindern feststellt: Im Alter von unter zwei Jahren können Schweizer Kinder auf einen grösseren Wortschatz zurückgreifen, wenn sie in Familien mit höherem sozioökonomischem Status aufwachsen.

Für den deutschsprachigen Raum sind solche Studien allerdings rar. Zwar wird untersucht, wie sich die Herkunft auf den Schulerfolg auswirkt, doch den Faktor Sprache betrachten die Forscher nur selten isoliert. Sprachwissenschafterin Czinglar ist an einem Projekt der Universität Wien beteiligt, das einen Zusammenhang von Spracherwerb und Herkunft aufzeigt; eine deutsche Studie kommt zu ähnlichen Ergebnissen.


Ein halbes Jahr hinterher

Viele Wörter sowie die Grammatik zu kennen, ist für Kinder auch deswegen wichtig, weil ohne Sprache in der Schule nichts geht: Inhalte werden sprachlich vermittelt, Aufgaben in Worten formuliert. Wer gut spricht, ist im Vorteil. «Ein Kind kann in diesem Schulsystem nicht reüssieren, wenn es die Sprache nicht beherrscht», sagt Walter-Laager. Was vermeintlich harmlos mit einem kleinen Wortschatz beginnt, setzt sich in schlechteren Schulleistungen und entsprechender Berufswahl fort. Die Schere vergrössert sich mit der Zeit eher, denn Kinder saugen alles auf wie ein Schwamm. Ein einmal erworbener Vorteil lässt sich nur schwer einholen, wenn die Bevorteilten einfach im gleichen Tempo weiterlernen.

Wie früh die Weichen gestellt werden, erweist eine amerikanische Studie: Die Psychologin Anne Fernald zeigte Kindern zwei Bilder, eines von einem Hund, eines von einem Ball. Eine Stimme sagte: «Schau den Hund an.» Erst mit zwei Jahren wandten die armen Kinder ihren Blick dem Hundebild so schnell zu wie die reichen Kinder im Alter von eineinhalb Jahren. Bereits zu diesem Zeitpunkt hinkten sie ihren bessergestellten Altersgenossen ein halbes Jahr hinterher.


Mit freundlicher Genehmigung der NZZ.

Streeck, N. (2015).

Reden ist Gold

. In der NZZ am Sonntag vom 19.04.2015.