Gender Diversity

Schweiz2291

In dem Zukunftsdialog «

Schweiz2291

» von

Christian Häuselmann

beschreiben 70 Schweizer Persönlichkeiten, welche Schweiz sie sich nach 1000 Jahren wünschen würden. 1291-2291. Wie werden wir leben? Was treibt uns an? Welchen Fortschritt wollen wir? Was wollen wir nicht? Die AutorInnen schicken uns auf die Reise in eine unvorstellbare Zukunft.

Der Beitrag von Carolina Müller-Möhl:


EIN TAG IM JAHR 2291 …

«Liebe Marianne, lieber Fred, der 1000. Geburtstag der Schweiz ist für unsere Stiftung eine grosse Chance.» Marianne nickte zustimmend, Fred schien etwas geistesabwesend. «In diesem Jubiläumsjahr», fuhr ich fort, «können wir zeigen, dass unsere Stiftung für Investitionen in die Zukunft steht – während die Politik ja eher zum Heraufbeschwören der Vergangenheit neigt.»

«Völlig einverstanden», sagte Fred, der offenbar doch zugehört hatte. Fred war der Algorithmus in unserem Verwaltungsrat. Dass wir die Männerquote von einem Drittel mit einem Algorithmus besetzt hatten, gab in den Echoräumen des Internets anfangs etwas zu reden. Aber die Situation hatte sich inzwischen beruhigt. Fred hatte bewiesen, dass er nicht aufgrund seines Geschlechts in unserem VR sass, sondern aufgrund seiner Leistungen. Fred war das genaue Gegenteil eines Quoten-Mannes, er konnte bis zu 42 Trillionen Gigabytes pro Tausendstelsekunde prozessieren, was immer wieder zu hilfreichen Beiträgen an unseren VR-Sitzungen führte. Auch heute enttäuschte uns Fred nicht: «Das Problem ist doch folgendes», hob er an, «was schenkt man einem Land, das schon alles hat? Die Schweizerinnen und Schweizer nehmen auf dem Methusalem-Index der UNO mit einer durchschnittlichen Lebenserwartung von 128 Jahren den Spitzenrang ein; manchmal scheint es fast, als finde das Leben überhaupt kein Ende mehr hierzulande. Dass etwa Bundesrätin Maria Kleiber nun schon seit 53 Jahren im Amt ist, hätte die Gründerväter von 1848 jedenfalls zutiefst verstört … »

«Kommen wir zum Thema zurück», sagte ich. «Ja», meinte Fred und murmelte innert einer Millisekunde eine Entschuldigung in sämtlichen lebendigen und toten Sprachen – ein charmanter Spleen. «Die Unternehmen in diesem Land», fuhr Fred fort, «eilen von Erfolg zu Erfolg, seit sie sich voll und ganz auf Bigger Data verlassen – genial in der Strategie und weltweit marktnah in der Umsetzung

«Das stimmt», seufzte Marianne schwärmerisch. «Ich habe gerade ein Businessbuch aus dem frühen 21. Jahrhundert gelesen. Unglaublich, dieser Verschleiss, der damals herrschte: endlose Sitzungen und ständig irgendwelche personalpolitischen Manöver … »

Fred machte unbeirrt mit seiner Schilderung der besten aller Schweizen weiter: «Der Verkehr fliesst unfall- und störungsfrei durch unser vernetztes Land, der letzte menschliche Autofahrer wurde ja auch schon vor über hundert Jahren demobilisiert. Auch die Drohnen haben endlich genug Platz, seit sämtliche Schwertransporte unterirdisch abgewickelt werden. Und nicht zuletzt stehen die Arbeiten an der vierten Dimension kurz vor dem Durchbruch, was das Platzproblem in unserem Kleinstaat ein für alle Mal lösen dürfte.» «Ja», stimmte ich zu, «bei Infrastrukturprojekten sehe ich ebenfalls kaum Betätigungsmöglichkeiten für unsere Stiftung. Aber im Bereich der Bildung müsste es doch möglich sein, einen Beitrag zu leisten … »

Fred räusperte sich täuschend echt und formulierte seinen Einwand so sensibel, wie es eben nur ein auf schonende Kommunikation programmierter Algorithmus zustande brachte: «Ich bitte zu bedenken, dass es seit der Zeit, in der an unseren Schulen mit ‹Artificial Intelligence Management› nur noch ein einziges Fach unterrichtet wird, schlicht keine überforderten Lernenden mehr gibt – denn im Falle der Überforderung managt die Artificial Intelligence einfach den Schüler oder die Schülerin. Wo sollen wir denn da ansetzen mit unseren Fördermassnahmen?»

«Das stimmt ja alles, Fred», sagte Marianne, «und trotzdem spüre ich in unserer Gesellschaft ein Unbehagen. Es ist, als sei alles etwas zu einfach geworden. Wie menschlich ist diese Gesellschaft noch?», wurde sie energischer. Fred ging umgehend auf Stand-by. «Menschen wachsen doch am Widerstand. Sie brauchen Herausforderungen, sonst verlieren sie sich», gab Marianne zu bedenken. «Menschen müssen doch auch scheitern können, sonst lernen sie nichts dazu. Dieses Motiv zieht sich nicht zufällig durch unsere ganze Kultur- und Wirtschaftsgeschichte.»

Fred wurde wieder wach: «Das kann ich bestätigen. Schon Lao-Tse soll gesagt haben, Scheitern sei die Grundlage des Erfolgs», meinte die Maschine, die selber das Gefühl des Scheiterns nie erlebt hatte. «Voilà!», sagte Marianne mit Genugtuung.

«Auch Seneca wies darauf hin, dass Schwierigkeiten den Verstand stärken, so wie hartes Arbeiten den Körper stärkt. Und wir alle wissen ja, was der irische Dichter Samuel Beckett einst schrieb: ‹Ever tried. Ever failed. No matter. Try Again. Fail again. Fail better›.» «Dieses Zitat stammt doch von Steve Jobs, dem Erfinder des iPhones – nett anzusehen, aber völlig überflüssig», seufzte Marianne. «Nein, dieses Zitat stammt von Samuel Beckett, und zwar aus ‹Worstward Ho›, einem späten Fragment des Autors», insistierte Fred. Marianne war drauf und dran zu widersprechen, unterliess es dann aber; zweifellos eine gute Entscheidung angesichts seiner eindrucksvollen Rechenleistung.

Fred fuhr auch schon fort: «Ich erinnere auch an John …, » «Danke, Fred, wir haben den Gedanken jetzt sicher alle begriffen.» « … an John F. Kennedy,» schaltete Fred auf stur, «der 1962 sagte: ‹We choose to go to the moon in this decade and do the other things, not because they are easy, but because they are hard.›»

«Fred!», rief ich, und Fred murmelte seine Blitzentschuldigung in sämtlichen Sprachen, von Aramäisch bis Zürideutsch. «Dann sind wir uns ja einig: Wir investieren in eine Fortbildung zum Scheiternlernen und geben so den Menschen wieder mehr Chancen, besser zu scheitern!».

Sogar Fred war kurz still. «Gibt es konkrete Ideen?», fragte ich. «Eine Schule ohne Internetanschluss?», probierte es Fred (ausgerechnet er!). «Mal sehen, was das an Kreativität bei den Kindern freisetzt, wenn wir Maschinen nicht alles für sie erledigen. Denn wie sagte schon Pestalozzi? ‹Der Mensch, der alles hat, was er will, wird gar zu gerne leichtsinnig.›» Marianne und ich nickten zustimmend (und bedauerten schon die Kinder). «Was ist mit unterfinanzierten Start-ups?», schlug Marianne vor. «Weniger Geld zwingt zu besseren Ideen.» «Wir unterstützen sie, indem wir sie NICHT unterstützen!», antwortete ich. «Genial – das lohnt sich auch für uns – so geben wir weniger Geld aus. Aber was tun wir dann mit unseren Mitteln?» Fred wusste natürlich auswendig – darf man das bei einer Maschine so sagen? – was der Auftrag unserer Stiftung ist: «Wir weisen auf Herausforderungen unseres Landes hin und arbeiten an zukunftsfähigen Reformideen.» Dieses ständige Besserwissern von Fred, ich gebe es zu, machte mich langsam wütend. Ich überlegte mir, ob unsere Stiftungsphilosophie «Talent kennt kein Geschlecht» eigentlich auch auf Fred anzuwenden sei. Die Antwort ersparte ich mir, aber ich kam auf eine Idee. «Ich hab’s», sagte ich: «Die Schweiz und die Welt haben eigentlich nur noch ein Problem: Wie leben wir mit der Maschine zusammen? Solche Initiativen müssen wir unterstützten.»

Fred stand unter Schock und bewegte kein Byte mehr. «Seit Algorithmen eine so wichtige Rolle in unserem Leben spielen, sind die Unterschiede zwischen Menschen in den Hintergrund gerückt.» Ich kam in Schwung. «Könnt Ihr euch erinnern? Im letzten Jahrhundert wurde das soziale Geschlecht noch hitzig debattiert. Doch heute ist die Frage eher: Hast du einen Chip oder nicht? Wir müssen wieder lernen, wer wir sind.»

Fred meinte, er sei davongekommen und surrte wieder zufrieden vor sich hin. Zu früh. «Und ausserdem», fuhr ich fort «müssen die Maschinen besser lernen, was uns ausmacht. Auch sie müssen das Scheitern kennenlernen.»

Vom Tisch nahm ich einen Bleistift und zielte auf Freds kleinen Resetknopf. Er jaulte auf, aber es war zu spät …