Wahrheit übers Lügen

Wann haben Sie das letzte Mal gelogen? Gerade eben? Dann geht es Ihnen wie mir. Als mich mein Buchhalter im Büro anrief, ließ ich ausrichten, ich sei leider schon unterwegs und danach in einem Meeting. Eine Lüge. Ich war zwar auf dem Sprung, aber noch erreichbar.

Mit meiner Notlüge befinde ich mich jedoch in bester Gesellschaft. An einer Veranstaltung der Excellence Foundation vor zwei Wochen an der Uni Zürich gab auch Dan Ariely, Professor für Verhaltensökonomie an der Duke University, unumwunden zu, dass er privat regelmäßig schwindle. „Wer will denn schon einen Partner, der immer die Wahrheit sagt“, meinte er verschmitzt. Der Spaß hört aber auf, wenn es um eine öffentliche Lüge geht. In seinem neusten Buch

Die halbe Wahrheit ist die beste Lüge

geißelt Ariely jene, die öffentlich die Unwahrheit sagen, weil sie damit Schaden anrichten und Vertrauen zerstören: in die Politik, in die Institutionen, aber auch in die Wirtschaft. Etwa Jérôme Cahuzac, Budgetminister im Kabinett von François Hollande. Er hatte die Öffentlichkeit ungeniert angeschwindelt, als er behauptete, er hätte nie ein heimliches Konto im Ausland gehabt. Wenig später musste Cahuzac zerknirscht zugeben, dass er rabenschwarz gelogen hatte.

Was uns erstaunt, ist für Verhaltensökonomen keine Überraschung. In unzähligen Experimenten hat Ariely nachgewiesen, dass das Verhalten der Menschen nicht gesteuert wird von einer rationalen Kosten-Nutzen-Rechnung, wie uns die klassische Ökonomie gerne einzureden versucht. Wir alle sind emotionale Wesen, die großen Wert darauf legen, dass wir uns am Morgen selbst im Spiegel in die Augen sehen können. Gleichzeitig sind wir aber bereit, ein wenig zu schummeln, wenn es uns zum eigenen Vorteil gereicht.

Verhaltensökonomen wie Dan Ariely, Ernst Fehr, Chairman des Department of Economics der Universität Zürich, oder Nobelpreisträger Daniel Kahnemann wurden lange Zeit belächelt. Zu Unrecht. In der Laudatio für Ernst Fehr, der Anfang April den diesjährigen Gottlieb-Duttweiler-Preis erhielt, sagte sein Kollege Ariely, dass Fehr einen entscheidenden Beitrag zur „psychologischen Wende in der Ökonomik“ geleistet habe. Über Kulturgrenzen hinweg konnte er nachweisen, dass die Menschen eine „Fairnesspräferenz“ haben. Vor allem aber, dass wir nicht nur vom Egoismus getrieben sind, sondern vom Wunsch nach Gerechtigkeit.

Ariely, Fehr und Kahnemann haben mit ihrer Verhaltensökonomie die Annahme der Chicagoer Schule um Milton Friedman widerlegt, dass Menschen völlig rational und egoistisch handeln. Wäre das so, müsste es zum Beispiel keine Sozialwerke geben, weil Menschen ganz selbstverständlich für das Alter sparen würden.

Als überzeugte Liberale bin ich selbstverständlich nicht für einen umfassenden Versorgerstaat. Aus den Erkenntnissen der Verhaltensökonomie können wir aber lernen, dass der Staat einerseits die persönliche Freiheit schützen, aber anderseits dafür sorgen muss, dass Menschen Entscheide treffen, die sie später nicht bereuen. Manchmal müssen wir uns also zum Glück zwingen. Das lehrt uns nicht nur unser IQ, sondern auch unser EQ, den nun auch die Ökonomie ernst zu nehmen beginnt.